Temeswar – Kulturhauptstadt Europas 2023

Rumänische Botschaft Berlin wirbt für das „kleine Wien“ im Banat

Präsentation zu Temeswar in der rumänischen Botschaft in Berlin Foto: die Verfasserin

Julian Vonarb, Oberbürgermeister von Gera

Der Bürgermeister von Temeswar Dominic Fritz (l.) im Gespräch mit Michael Martens, Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)

Adriana-Loreta St²nescu, Botschafterin von Rumänien in der Bundesrepublik Deutschland mit Professor Rudolf Gräf

In der Pannonischen Tiefebene, südlich von Ungarn und östlich von Serbien, ließen sich die Kolonisten im 17. Jahrhundert nieder. Mit Flößen auf der Donau sollen sie von Westen, von Ulm gekommen sein, aus Schwaben, dem Elsass, von der Mosel, dem Main und dem Rhein, auch aus Italien, Spanien und Österreich… Versprechungen locken sie in diese unwegsame, sumpfige, von den Osmanen verwüstete Landschaft. Mit gutem handwerklichen Können errichten sie mühselig und fleißig ihre Dörfer und Städte, betreiben Landwirtschaft und Handel. Ihrem katholischen Glauben bleiben sie treu. Unterschiedliche Völkerscharen ziehen in den hunderten von Jahren durch diese Landschaft, erobern und vertreiben die anderen, andere kommen und tun das gleiche. Ab dem 18. Jahrhundert bekommt die Habsburger Monarchie die Oberhoheit, nach dem 1. Weltkrieg kommen die „Donauschwaben“ zu Großrumänien. Nach dem 2. Weltkrieg verschwindet Rumänien mit seinen unterschiedlichen Landschaften und Ethnien hinter dem Eisernen Vorhang und diktatorisch regiert der Kommunismus. Erst nach 1989, nach der Öffnung der Grenzen in Europa, taucht das Land mit seiner ungeheuren historischen Vergangenheit aus dem Nebel auf.

Temeswar/Timișoara, die barocke Stadt, das „Kleine Wien“, ist Mittelpunkt dieser historischen Region in Südosteuropa. Zu hohen Ehren wird diese Stadt im nächsten Jahr gekürt und Kulturhauptstadt 2023 in Europa sein. Die zweite rumänische Stadt, die diesen hochverdienten Namen trägt: Im Jahr 2007 wurde Hermannstadt/Sibiu in Siebenbürgen ausgewählt.
Unzählige Gäste nehmen am 8. November in der Rumänischen Botschaft in der Dorotheenstraße in Berlin-Mitte Platz und streben Temeswar und seiner Kultur entgegen. Irgendwo vorne erkenne ich Judith Urban, die ehemalige Konsulin in Hermannstadt. Klaviermusik ist zu hören. Die bereits preisgekrönte Pianistin Daria Tudor wird am Abend Werke von George Enescu und eine Bach-Bearbeitung von Ferrucio Busoni spielen, ein musikalisches Geschenk. Professor Dr. Rudolf Gräf lehrt als Historiker an der Babe{-Bolyai-Universität in Klausenburg/Cluj-Napoca, und wir werden von ihm in großen Zügen über die Geschichte des Banats und dessen Gründung im Jahr 1266 erfahren, durch Stefan V., König von Ungarn und Kroatien, dann über die Osmanische Zeit bis zur Habsburger Verwaltung, und hören, dass erst Kirchen durch Moscheen ersetzt und dann die Osmanen Schritt für Schritt durch die Habsburger verdrängt wurden.
Die Österreicher haben ein neues Konzept – Temeswar wird eine neue Stadt, und ein neues Banat entsteht. Ungarn bekommt den Landesteil nicht zurück. Das Banat wird ein Kronland mit nur einem Kaiser, die Bevölkerung hat gleiche Rechte und gleiche Pflichten, doch eine Demokratie entsteht nicht. 1919 marschieren rumänische Truppen ein, das Banat wird Rumänien zugesprochen. Neue Machtverhältnisse entstehen, wieder werden sich die Bewohner neu orientieren. Rumänien sympathisiert mit der deutschen Naziregierung, und so mancher Mann geht freiwillig in die SS. Juden aus Ungarn treffen in den 1940er Jahren zu Tausenden in Temeswar ein, wollen den Deportationen entgehen. Knapp 3000 von ihnen werden verschleppt, etwa einhundert in die Lager Transnistriens deportiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnen bei Nacht und Nebel die Deportationen der deutschen Minderheit ins Donezbecken zur Schwerstarbeit.
Noch 1945 wird die Universität gegründet und später ist von der Aktionsgruppe Banat die Rede, der literarisch-politischen Gruppe junger Schriftsteller, denen ein schweres Leben in dem Land Rumänien während der kommunistischen Zeit bevorsteht. Seit den 1960er Jahren verlassen Angehörige der deutschen Minderheit das Banat, werden von der Bundesrepublik Deutschland herausgekauft und gehen nach Westdeutschland, nach 1989 beginnt der Exodus. Es wird erwähnt, dass Herta Müller 2007 den Nobelpreis für Literatur erhält, und Stefan Walter Hell bekommt mit zwei anderen Wissenschaftlern 2014 den Nobelpreis für Chemie. Beide besuchten das „Nikolaus-Lenau–Gymnasium“ in Temeswar und leben seit vielen Jahren in Deutschland. „Temeswar/Timi{oara – eine Stadt mit Vergangenheit und Zukunft“, lautete das Vortragsthema von Professor Gräf.

Das Kulturforum östliches Europa in Potsdam und die Rumänische Botschaft in Berlin haben zu der Veranstaltung am 8. November eingeladen. Dr. Ingeborg Szöllösi empfängt wie immer kompetent die schwarzgekleideten wichtigen Herren und die wenigen Damen. Bis auf den letzten Platz ist der Saal besetzt und alle möchten über Temeswar und sein Kulturprogramm im nächsten Jahr erfahren. Adriana Loreta Stanescu, die Botschafterin Rumäniens, begrüßt die vielen interessierten Gäste und Dr. Harald Roth, Direktor des Deutschen Kulturforums östliches Europa, ebenso. Auf der Leinwand empfängt uns Temeswar mit herrlichen fröhlichen Szenen. Schon sind wir Gäste mitten in Temeswar. Ein Treffpunkt verschiedener Ethnien und Religionen und Sprachen ist die drittgrößte Stadt Rumäniens, eine freiheitsliebende Stadt!

Teodora Borghoff ist mit ihren graphischen Darstellungen aus Temeswar mitgekommen nach Berlin. Sie ist Kuratorin von „Temeswar 2023.“ Der Geraer Oberbürgermeister, Julian Vonarb, kommt als Gast ans Podium. Die thüringische Stadt Gera ist Partnerstadt von Temeswar und wird im nächsten Jahr ins dortige Programm aufgenommen. Kontakte gehen hin und her, das Philharmonische Orchester Altenburg Gera wird dabei sein, Theateraufführungen wird es geben, gelebte kulturelle Zusammenarbeit, Völkerverständigung im Vereinten Europa, meint Vonarb.
Enthusiastisch lädt uns Simion Giurc² nach Temeswar ein. Mit Stolz und Begeisterung verspricht er ein interessantes Programm, verspricht große Gastfreundschaft, wunderbares Essen und viel, viel mehr. Temeswar bricht all die Vorurteile, die auf dem Weg sind, es ist eine romantische Stadt, er erklärt uns die Seele der Stadt, beschreibt die an Österreich erinnernden Bauten, Barock, Jugendstil und Art Deco vom Feinsten, saniert und renoviert. Nicht als Touristen, als Besucher sollen wir kommen. Die größte Fußgängerzone Rumäniens gibt es in Temeswar und die moderne Straßenbahn fährt dort mitten durch die Banater Metropole. Ein ungarisches, ein rumänisches und ein deutsches Theater zeigen interessante Aufführungen, die moderne Oper wird 1946 gebaut. Die rumänischen Bürger haben deutsche Traditionen und Kultur übernommen, Bier fließt seit 1718, der Wein aus der Umgebung wird uns Gästen schmecken. Giurcă ist der Animateur von Temeswar. Angesteckt werde ich von ihm und freue mich auf das nächste Jahr. Auch die jüdischen Gebäude wurden saniert und können besucht werden. So denke ich doch gleich an den großartigen, fein bebilderten „Mehr als ein Stadtführer – Auf den Spuren des jüdischen Temeswar“ von Getta Neumann. Es soll keinen anderen Reiseführer über die Stadt geben.
Der Bürgermeister von Temeswar, Dominic Fritz, erzählt dem Südosteuropa-Korrespondenten Michael Martens von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wie er vom Südschwarzwald nach Temeswar kommt, während seinem Freiwilligen Sozialen Jahr arbeitet er in einem Kinderheim, geht zurück, kommt immer wieder, Politik und Verwaltung studiert er. Er fühlt sich von der Vielfältigkeit des Deutschen, des Ungarischen, des Rumänischen und auch des Serbischen angezogen. Von Antikorruption ist zu hören, Transformation, langfristig Europa neu entdecken und definieren. Temeswar gilt als Revolutionsstadt, damals 1989 starben viele Menschen.

Digitalisierung ist wichtig für die Verwaltung, Fritz sorgt für Vollbeschäftigung in der Stadt. Ein Jahr Wahlkampf steht er durch und letztlich gewinnt er haushoch. Mit riesigen Erwartungen wird er 2020 gewählt, eine große Herausforderung für ihn. Mit Leidenschaft beginnt er sein Amt. Er erklärt, wie er im Rathaus agiert und dirigiert, erklärt seine Vorhaben, erklärt seine Wünsche und Strategien, wie weit sie bereits erfolgreich sind und weitere dazu kommen sollen. Seine Netzwerke funktionieren und sind wichtig.  Eine abschließende Aussage von Fritz: „Wir glauben, dass unsere Geschichte Europa inspirieren könnte.“

Eine Belohnung und ein Glücksfall ist die „Kulturhauptstadt 2023“ sowieso. Temeswar ist jetzt schon bekannt, wird noch mehr Besuch bekommen. Für manche eine kleine Stadt, für andere eine große Seele!