Triumph der Faktenverdreher

„Als junge Studentin habe ich ein Jahr in London verbracht. Es hat mich geprägt, insbesondere weil ich nicht übermäßig viel Zeit in den Hörsälen und Bibliotheken verbracht habe. Dafür umso mehr in Soho und den Plattenläden von Camden. Ich lernte eine warme, lebendige, farbenfrohe, multikulturelle Londoner Gesellschaft kennen – eine vitale, offene Stadt, wie ich sie zuvor noch nie erlebt hatte. Menschen aller Schichten und Schattierungen, das Leben und ihre Freiheiten in vollen Zügen genießend. Ich bin eingetaucht in diesen Schmelztiegel von Kulturen, Traditionen und Musik. Und ich habe mich damals in diese Stadt und dieses Land verliebt.

Ein willensstarkes, aufgeschlossenes und großherziges Land. Stolz und patriotisch. Freundlich, großzügig im Geiste. Voller Traditionen und Widersprüche, die bis heute sichtbar sind und sicher mit ursächlich waren für den Ausgang des Referendums. Meine tiefe Sympathie für das Vereinigte Königreich wird ewig bleiben. Aber es geht für Europa weiter. Das Europäische Projekt ist so viel größer und wichtiger für unsere Zukunft. Es bleibt richtig, globale Herausforderungen wie Klimawandel, Digitalisierung und Migration gemeinsam anzugehen. Als starker Verbund von mehr als 440 Millionen Europäerinnen und Europäern, als mächtiger Wirtschaftsblock, als einzigartige Kultur-, Wissenschafts- und Wertegemeinschaft. Europa ist unsere beste Chance, dass es auch den folgenden Generationen gut geht. Künftig in guter Nachbarschaft mit unseren britischen Freunden.“ So lautet Ursula von der Leyens „Abschiedsbrief“ an Großbritannien, geschrieben auf Aufforderung des „Spiegel“. 
In der „Übergangsphase“ bis 31. Dezember 2020, die nun folgt, „ändert sich vorerst nichts“, beruhigt man uns Bürger. Doch die uns bekannte Welt wird neu geordnet. Es folgen nicht nur die Verhandlungen zur Durchführung des EU-Austritts Großbritanniens, es folgen auch der US-Wahlkampf und die Wahl eines neuen (alten?) Präsidenten in den USA. Beides Weltgeschichte.

Einerseits ist auch nach dem qualvoll geregelten Austritt der Briten am 31. Januar ein chaotischer „No-Deal“-Austritt nicht vom Tisch, andrerseits hat der fast zeitgleich mit dem Brexit erklärte Verzicht des republikanisch dominierten US-Kongresses auf die Anhörung weiterer Zeugen das Amtsenthebungsverfahren des Trump obsolet gemacht: Die Vertreter des Weltpolizisten USA haben ihren unleugbaren Willen bekundet, die Wahrheit nicht wissen zu wollen. Und sie haben ihrem unberechenbaren Präsidenten mit offenen Neigungen zur Autokratie den Persilschein für vergangene und künftige Taten in die Hand gedrückt. Es ist der wohl entscheidende Impuls zum bereits gestarteten US-Wahlkampf, möglich auch zum Wahlsieg Trumps am 3. November. 
Die Demokraten haben sich zwischen Hammer und Amboss manövriert. Sie hatten auch keine andere Wahl, als ein Impeachment zu forcieren, denn sie standen in der Verantwortung vor ihrer Basis. Sie erlagen nicht der Windigkeit und der Lügenlawine der Trumpschen Advokaten, erschlagen wurden sie von der Systematik der Unwahrheiten, mit denen das Trump-Team die Welt füttert.

Brexit und Unschuldserklärung Trumps sind zwei Seiten derselben Medaille: der triumphale Sieg der Lügen über die Fakten. Kaum jemand hat den geringsten Zweifel, dass Trump getan hat, was ihm die Demokraten zum Vorwurf machen. Und kaum jemand zweifelt, dass der Journalist Boris Johnson, als er von Brüssel aus die EU mit seiner großmauligen Dreckschleuder vor den Briten verunglimpfte, sein bereits in Etan als Schüler erklärtes Fernziel im Auge hatte, Großbritannien aus der EU herauszureißen. Dazu waren ihm damals schon die schmutzigsten Argumente und die größten Lügen gerade recht: Er wusste genau, wonach sein Zielpublikum lechzte. Er bediente die Erwartungen.
Seit dem 31. Januar 2020 haben Lügen lange Beine. Sie verdrehen Köpfe.