Über Bücher, Raki und Wahrnehmungsstörungen

Frankfurter Buchmesse – Impression
Foto: Frankfurter Buchmesse / Peter Hirth

Mein Freund Matei Vişniec ist vor Ceauşescu nach Frankreich geflüchtet und lebt seit 25 Jahren in Paris, wo er zu einem weltberühmten Theaterautor geworden ist. Vor gut zwei Wochen, kurz bevor ich die Frankfurter Buchmesse besuchte, schickte er mir eine E-Mail:

„Als ich vor zwei Jahren die Frankfurter Buchmesse besuchte“, schrieb er, „waren alle osteuropäischen Verlage in einer Art Untergeschoss untergebracht, wo kaum ein Besucher vorbeikam. Also schauten die Rumänen die Ukrainer an, die Tschechen die Ungarn und Slowaken, die Bulgaren besahen die Albaner und Slowenen, die Serben betrachteten die Ungarn usw. Es herrschte ein Gefühl der peinlichen Berührtheit, weil absolut keiner an der Literatur der Nachbarn interessiert war, alle wollten viel lieber von den Westlern besucht werden, von den Amerikanern, Franzosen, Kanadiern. Die Westler, die dort vorbei kamen, waren jedoch selten.

Um nicht in Depressionen zu verfallen, taten also die Osteuropäer so, als würden sie Neuerscheinungen auf den Markt bringen. Wenn die Ungarn etwas auf den Markt brachten, gingen die anderen Osteuropäer zum ungarischen Stand, und tranken dort Barack Pálinka, wenn die Polen eine Neuerscheinung vorstellten, begaben sich die Osteuropäer zu den Polen, um sich dort einen Zubrowka-Wodka hinter die Binde zu kippen. Die Osteuropäer wanderten in einem furchtbaren Ghetto hin und her, völlig außerhalb des großen Kreislaufs der Buchmesse. Es war eine Atmosphäre der totalen Verachtung für den halben europäischen Kontinent. Wenn es dabei geblieben sein sollte, lass auch für mich bitte einen Riesenlacher vom Stapel auf der Frankfurter Buchmesse.“

Nun ja, mein Freund Matei beschreibt die Buchmesse also als absurdes Drama, kein Wunder, denn er ist ja schließlich ein Autor des absurden Theaters. Und natürlich übertreibt er, was das Zeug hält. In Wirklichkeit sah bei seinem damaligen Messebesuch alles ganz anders aus, und vor zwei Wochen, als ich die Messe durchkreuzte, ebenfalls: Die osteuropäische Literatur war beileibe nicht in einem Untergeschoss untergebracht, sondern in der Halle 5. Und es kamen dort zwar in der Tat nur selten westliche Besucher vorbei, sodass das Ganze, genau wie Vișniec sagte, nach einem Bücher-Ghetto aussah, aber man trank dort weder Barack Pálinka noch Wodka. Also mir hat man bloß Raki und Sliwowitz angeboten. Aber es reichte aus, um sich die leere Halle 5 voll zu trinken!

Aber Spaß beiseite, das Image der östlichen Literatur im Westen lässt sich auch durch eine ganze Flasche Hochprozentigen nicht schöntrinken. Ein Verleger erzählte mir, dass ein aus dem Amerikanischen oder Französischen übersetztes Buch mindestens dreitausend Exemplare ganz ohne Werbung absetze, wogegen bei einem aus dem Esthnischen übertragenen Roman lediglich 700 Exemplare über die Theke gingen, trotz der zwanzig hochpreisenden Rezensionen.

Nun ja, was aus dem Osten kommt, das gilt als uninteressant und nicht erwähnenswert. Dieser Irrglaube ist trotz vielseitiger Heuchelei in Sachen Interessenbekundung weit verbreitet, und östliche Autoren werden auf ihren hiesigen Lesungen immer noch als merkwürdige Exoten angesehen. „Ich bin ein Schriftsteller! Ich schreibe über Liebe und Hass, genau wie eure Autoren. Nur weil ich das Pech hatte, in einer schlimmen Zeit und einem schlimmen Ort aufzuwachsen: Muss ich jetzt deshalb den Rest meines Lebens dafür büßen?“, fragt der rumänische Dichter Mircea Cărtărescu.

Natürlich gibt es Verlage, die, stets bemüht, diese Wahrnehmungsstörungen zu korrigieren, hochkarätige osteuropäische Autoren gedruckt und auch erfolgreich durchgesetzt haben. So verfügt der starke Suhrkamp-Verlag über eine wunderbare osteuropäische Literaturabteilung, aber auch die kleinen aber feinen Verlage Matthes & Seitz und Dittrich aus Berlin, wie auch Residenz aus Österreich haben bewiesen, dass Bücher aus Osteuropa ganz schön kräftig leuchten können.