„Untergegangen, vom Gras überwuchert“

Ausstellungs-Thema „Atlantis. Verlorene Orte“ im Museum des Banater Montangebiets in Reschitza

Bassgeige des Imre Szántó, der das Musizieren in Herepea aufgegeben hat, weil er das Summen der Hochspannungsleitung überm Dorf nicht mehr übertönen konnte

Die Karte aller vom internationalen Team des Berliner Museums Europäischer Kulturen in der Koordination von Andreea Vándor dokumentierten untergegangenen Ortschaften in den fünf Zielländern

Der nur auf Schwarz-Weiß- oder sepia-getönten Fotos schöne (Gift-)„See“ von Geamăna und der Kirchturm, der noch aus dem „Wasser“ ragt

Die Donauinsel Ada Kaleh mit der türkischen Festung darauf. Am Nordufer ist die Mündung der Cerna eingezeichnet und etwas westlich davon die Festung von Alt-Orschowa – alles auf einer Karte von 1720. Was der Militärkartograph vor 300 Jahren hier festhielt, ist heute geflutet und liegt auf dem Grund des Donaustausees beim Eisernen Tor, der auf der Donau einen Rückstau von rund 135 km – also fast bis Belgrad – verursacht. Fotos/Repro: Werner Kremm

Atlantis – der Name steht für ein einst mächtiges und sagenumwobenes, dann aber untergegangenes Inselreich, das der griechische Philosoph Platon einst beschrieben hat. Und genau an diesen untergegangenen, verschwundenen Ort knüpft nun ein Ausstellungsprojekt an, das das Berliner Museum für Europäische Kulturen auf den Weg gebracht hat. Das Resultat, Ausstellungen, werden zunächst nicht zuhause, in der deutschen Hauptstadt, sondern dort, wo die Ausstellung eigentlich inhaltlich angesiedelt ist, von wo sie ihre Substanz schöpft, gezeigt: in Südosteuropa. Zuerst war Pécs in der „Schwäbischen Türkei“ in Südwestungarn dran. Jetzt die alte Montanindustriestadt Reschitza. Gezeigt werden Impressionen und Denkanstöße rund um „Atlantida. Lumi pierdute“, zu Deutsch: „Atlantis. Verlorene/Verlassene Welten“.

Und davon gibt es gerade in Südosteuropa im Allgemeinen und in Rumänien im Speziellen eine ganze Reihe von Fallbeispielen. Vier davon zitiert die Ausstellung, die Anfang November im Museum des Banater Montangebiets (MBM) von der Projektinitiatorin, der gebürtigen Ungarin und Mitarbeiterin des Berliner Museums für Europäische Kulturen, Andreea Vándor, und von Dr. Livia Magina, der Leiterin des MBM, sowie, als Gastredner zur Vernissage, vom Historiker Dr. Rudolf Gräf, eröffnet wurde.

Dorf im Giftsee ertränkt

Wir, das sind der Reporter und sein oftmaliger Rumänienführer, der Journalist Walter Krucso, betrachten gemeinsam ein großflächiges Schwarz-Weiß-Foto: Eine idyllisch wirkende Seenlandschaft. Auf der Wasseroberfläche: Nebelschwaden. Entlaubte Bäume am Seeufer. Spätherbst? Ganz in der Ferne erkennbar: Etwas Spitzes, das aus dem „Wasser“ herausragt. Ein Kirchturm? Der gerade noch über der „Wasser“-Oberfläche zu sehen ist?

Stimmt. Ein Kirchturm mitten in einem Giftsee. Was auf dem Schwarz-Weiß-Foto so anziehend silbrig glänzt, ist in Wirklichkeit rostbraun-schlammig und hochgiftig. Ein Giftsee, wo der Fotograf (die Schlüsselfotos der Ausstellung stammen von Frank Gaudlitz) auch das „Fotografieren verboten“ aufs Bild brachte, das das Kupferanreicherungswerk des Staatsunternehmens CupruMin anbrachte, das den Giftsee verursachte. In dem ein Dorf verschwand. Einfach ertränkt wurde, nachdem CupruMin, unter mehr oder weniger Zwang oder Druck, den Dorfbewohnern ihre Häuser und Anwesen abgekauft hatte. Von daher der Kirchturm, der aus dem „Wasser“ ragt. Das Dorf Geamăna liegt in Siebenbürgen, innerhalb des Karpatenbogens. Ein Dorf, das der Kupferförderung und Erzanreicherung weichen musste. Und der ganze Giftschlamm, der aus der Kupfererzanreicherung resultierte, wurde ins Tal gekippt und per Staudamm zum „See“ aufgestaut. In jenem „See“ ist jenes Dorf, Geamăna hieß es, abgesoffen. Der Kirchturm ist stehen geblieben.“ Man denkt da unwillkürlich an den seit Römerzeiten dokumentarisch belegten Montanort Roșia Montană im Siebenbürgischen Erzgebirge…

Das Kirchenfenster vom Abfallhaufen

Walter Krucso steht andächtig vor einem anderen großformatigen Foto, zu sehen im „Muzeul Banatului Montan“, dem Museum der Geschichte des Banater Montangebiets, MBM, in Reschitza. Der rumäniendeutsche Journalist blickt auf Fotos, die eine beschauliche Herbstszenerie zeigen: Eine große Wiese, darauf Obstbäume. Knorrige, witterungsbeständige und -gebeutelte zeitenüberdauernde Apfelbäume auf einer Streuobstwiese. Auf einer Aufnahme daneben: Von viel Grün überwucherte Mauerreste. „Lindenfeld“ steht auf einer Info-Tafel.

„Lindenfeld war eines der deutsch-böhmischen Dörfer in Westrumänien“, erzählt er. „Historisch gesehen war es eine der letzten Ortschaften, die von der Habsburger Monarchie gelenkt und subventioniert angesiedelt wurden. Das war 1828. Die Leute kamen als Wehrbauern an die damalige Grenze zum Osmanischen Reich, als Teil und Mitglieder der Grenzregimenter. Mit Privilegien und Verpflichtungen. Lindenfeld liegt… lag… liegt auf 1000 bis 1100 Metern Seehöhe, mit einem sehr rauhen Klima. Beginnend mit den 1960er Jahren ist Lindenfeld entsiedelt worden, wegen der rauen Lebensbedingungen, wegen der Isoliertheit, der Abgeschiedenheit. Und zudem hat es schon Inzucht-Anzeichen gegeben. Man hat die Entsiedlung ermutigt. Als Erste wanderten von dort die Jungen ab, erst mal dahin, wo es für sie Industriearbeit gab. Allmählich zogen die Eltern, zuletzt die Großeltern nach – wenn sie nicht vorher verstorben waren. Nach 1989 sind sie ausgewandert, alle, jeder von dort, wo er nach dem Verlassen der Ortschaft gelandet war. Der letzte Ortsbewohner, ein gewisser Schwirzenbeck, starb infolge eines Verkehrsunfalls in einem unfern von Lindenfeld gelegenen Städtchen. Die beeindruckenden Ausstellungsobjekte, ein Kirchenfenster mit teils zerbrochenen Buntglasscheiben und der Rahmen einer verrosteten Eisentür vom Kirchgarten, hatte eine in Deutschland lebende ehemalige Lindenfelderin auf einem Abfallhaufen am Dorfrand gefunden und nach Deutschland mitgenommen – um sie dann für diese Ausstellung der Vertreterin des Berliner Museums anzuvertrauen. Ebenso den Spinnrocken, an dem sie als Kind in Lindenfeld ihre ersten Arbeitsübungen machte.“

Objekte und Menschen dokumentiert

Geamăna, Lindenfeld – zwei von mehreren Beispielen aus Rumänien dafür, wie Dörfer im Laufe der Zeit verschwinden. Ihre Geschichten werden in der Ausstellung dokumentiert anhand von großformatigen Fotos und Texttafeln, sowie von einigen Objekten. Die Ausstellung „Atlantida. Lumi pierdute“ ist bis Februar in Reschitza zu sehen.

„Also, das ist so ein internationales Projekt“, hören wir von der Ausstellungs-initiatorin Andreea Vándor. „Es geht um kleine Dörfer, die verschwunden sind. Im Projekt nehmen als Wissenschaftler ungarische, rumänische, serbische, kroatische, deutsche und slowenische Partner teil“, erklärt die Projektleiterin beim „Museum Europäische Kulturen“ in Berlin, unter dessen Schirmherrschaft das Ausstellungsprojekt auf den Weg gebracht wurde. Und das geht so: Von Berlin aus haben Andrea Vándor und ihr Team Kontakte geknüpft zu Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern in allen sechs beteiligten Ländern. Der Auftrag: Verlassene, aufgegebene Ortschaften ausfindig machen, ihre Geschichte dokumentieren.
Doch nicht nur das. „Was uns hier wichtig war: Nicht nur Zahlen und Fakten zusammenzustellen, sondern persönliche Geschichten, weil es  ja nicht um Zahlen geht, sondern um die Personen, die aus diesen Siedlungen wegmussten. Irgendwann. Wie geht es denen jetzt?“

„Lampe des Ilitsch“ als Menschen-verscheucher

Wie geht es zum Beispiel jenem Musiker aus dem rumänisch-ungarischen Dorf Herepea? Seine Geschichte dokumentiert sich in der Ausstellung durch einen hölzernen, deutlich in die Jahre gekommenen Kontrabass, der die Blicke der Besucher auf sich lenkt und der wie eine Leiche auf einem leichten Gestell aus Naturholz (Ausstellungsdesign: Xaver Victor Schneider) liegt, das auch die Fotos stützt – einschließlich jene, wo der Besitzer des nicht mehr funktionsfähigen Zupf- und Streich-Instruments dieses entstaubt und den Ausstellungsmachern als Geschenk mitgibt. Darüber zudem Fotos, die verfallene Steinmauern unter einer Hochspannungsleitung zeigen. Und den Dorfmusiker und Glöckner der Kirche, Imre Szántó. Gefragt, an was er denke, wenn er aus dem Nachbardorf das Läuten „seiner“ Dorfglocke hört, antwortet er: „Ich überlege, wie ich sie zurückbringen könnte – aber leider gibt es hier keinen Ort mehr, wo man sie aufhängen könnte…Da ist alles weg.“
Die „Lampe des Ilitsch“, mit der man in den 1950er und 1960er Jahren die Elektrifizierung als Sieg des Kommunismus pries, sie hat Menschen auch entwurzelt, aus ihrer engeren Heimat verscheucht: „Da wurde eine Hochspannungsleitung direkt über das Dorf gelegt. Sie teilt das Dorf in zwei Hälften. Und das Summen der Hochspannungsleitungen ist so laut, dass der Musiker die Musik aufgegeben hat. Und seine Bassgeige hat er jahrelang in einem Schuppen aufbewahrt, in Heu und Stroh, sie zuletzt dem Museum geschenkt“, erfahren wir von einem Begleittext.

Die vertriebenen Türken von Ada Kaleh

Ebenso kommen wir bei unserem Rundgang auf die Schicksale der Menschen auf der einstigen Donau-Insel Ada Kaleh am Eisernen Tor zu sprechen – lange Zeit eine Exklave des Osmanischen Reiches, gelegen zwischen der rumänischen Donau-stadt Orschowa und dem gegenüberliegenden Serbien, einige Kilometer stromaufwärts des Donaukraftwerks Eisernes Tor I. Doch beim Bau des riesigen Wasserkraftwerks Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, wurde die Insel, die hauptsächlich von Türken bewohnt war, geflutet. Die Bewohner der Siedlung und Festung Ada Kaleh waren Nachfahren von Soldaten aus dem gesamten Osmanischen Reich, die nach Beendigung ihres Wehrdienstes hier Siedlungsrecht bekommen hatten und eine Tabakfabrik betrieben, kleine Manufakturen für echt türkische Süsßigkeiten, Cafés, wo man den „Türkischen“ kosten konnte, sowie vom Tourismus lebten. Allerdings: sie waren auch Donauschiffer und insgeheim beschäftigten sie sich auch mit einträglichem Schmuggel. Diese Menschen mussten umsiedeln; vielen erlaubte der rumänische kommunistische Staat damals, in die Türkei „zurück“ zu wandern. Nicht wenige nahmen das Angebot an und leben heute im Großraum Istanbul. Aber nicht alle.

„Viele der in Rumänien Gebliebenen haben, und das hat man in ganz Rumänien sehen können, Cafés eröffnet, wo sie türkischen, in Kupfertiegeln auf glühendem Sand gebrauten Kaffee angeboten haben. Und ihre Cafeterias nannten sie „Ada Kaleh“, wie ihre Geburts- und Herkunftsinsel. Und so hat es im ganzen Land „Ada-Kaleh“-Cafés gegeben, wo man türkischen Kaffee trinken konnte. Heute lebt nur noch je ein auf Ada Kaleh geborener Türke in der Nähe der gefluteten Insel, einer in Orschowa, einer in Turnu Severin.“

Musik aus Stille verlassener Orte

Verlassene Orte – und die Schicksale der Menschen, die dort gelebt haben: Für jedes der beteiligten Länder Ungarn, Rumänien, Serbien, Slowenien und Kroatien stellt das Berliner „Museum Europäische Kulturen“ eine eigene kleine Ausstellung zusammen – über verlassenen Orte im jeweiligen Land.

„Und danach möchten wir einige Teile oder auch die kompletten Länder-Ausstellungen – genau wird sich das noch herausstellen – in Deutschland zusammenführen, wo man die Siedlungen aus den fünf Ländern zusammen sehen können wird . Für 2027 planen wir das, erst mal im Museum Europäischer Kulturen. Danach stellen wir die Ausstellung auf Abruf global zur Verfügung, denn verlassene/aufgelassene Orte gibt es weltweit. Die erste große, zusammenführende Ausstellung und das Projektfinale aber sind in Berlin.“ Dr. Rudolf Gräf nannte die Reschitzaer Ausstellung ein „kleines Schmuckstück“ – das Berliner Museum dürfte also 2027 zum Schmuck-Kasten werden…

Die Erinnerung wachhalten an verlorene Mikro-Welten in Südosteuropa – das hat Projektleiterin Andreea Vándor zu ihrer Herzensangelegenheit erklärt, „…weil das alles Schicksale sind, das sind Geschichten, das sind Kulturelemente, die da verschwinden, das sind Alltagserlebnisse, die da verschwinden. Mit unseren museologischen Mitteln wollen wir anregen, über das Verschwinden von Klein-Welten nachzudenken.“

Denn das VERSCHWINDEN von Ortschaften gehe bis in die jüngere Geschichte, ja bis in die Gegenwart hinein: „Auch nach den Sezessionskriegen in  Jugoslawien, als neue Grenzen entstanden sind, wurden viele Gegenden entvölkert. Etwa eine ganze Region in Kroatien. Oder zum Beispiel die jüngste verschwundene Ortschaft im Projekt, das ist vom vorigen Jahr, wo es eine große Unwetterkatastrophe in Slowenien gab. Also eine Klimakatastrophe. Das ist gegenwärtig ein neuer Grund, weswegen Ortschaften verschwinden.“ So Andreea Vándor, die selber durch ein Schlüsselerlebnis in Ungarn auf dieses Thema kam, das sich vor über 30 Jahren zugetragen hatte und das sich ihr als unvergesslich einprägte. Sie hatte eine Ortschaft besucht, von der nur zehn Jahre später bloß noch die Grundmauern existiert haben. Heute herrscht dort Stille.

Zum Begleitmaterial der Ausstellung gehört übri-gens eine Komposition zweier in Deutschland lebender Komponisten, Misha Antonov und Mirko Perencevic, die Tonaufnahmen des Fotografen ausgewertet haben, der 2024 die letzten ausgestellten Fotos aus den porträtierten Ortschaften geschossen hat. Töne der Stille, die zu einem hochinteressanten Musikstück verarbeitet worden sind. Die Komposition kann man sich in der Ausstellung per Kopfhörer anhören oder sich aufs Handy übertragen lassen.

Führten vor Jahrzehnten noch politische, demografische und wirtschaftliche Gründe zum Verschwinden von Ortschaften, so ist heute der Klimawandel als weitere Ursache dazugekommen. Somit könnte die Beschäftigung mit verschwindenden Dörfern und Regionen sowie mit den Schicksalen der Menschen dort aktueller kaum sein.