Von Kunst, von Musik und einem „Gefühl,  dass die Leute keinen Idealen mehr nachgehen“

Klaus Philippi im Gespräch mit Malerin Ileana Selbing, Witwe zweier Gründer von Berufsorchestern

Ileana Selbing Foto: Klaus Philippi

Unten, an der Fernsprechanlage vom 1934 gebauten Eckhaus, steht noch ihr eigener Name: „Selbing I.“ Gleich nach dem Betreten des luxuriös geräumigen Eingangskorridors und herrschaftlich großen Treppenhauses der alten Bankniederlassung an der Kreuzung von Heltauergasse/Nicolae Băcescu und Harteneckgasse/Cetății aber, die nach dem Zweiten Weltkrieg zum Wohnhaus wurde, haftet an der Appartement-Türe das angegilbte Etikett der Aufschrift „Fam. Henry Selbing“.

Eigentlich gäbe es schon seit 23 Jahren kein Motiv mehr, den ersten Leiter der Staatsphilharmonie Hermannstadt/Sibiu zu notieren, als wäre er nicht längst verstorben. Großmeister Henry Selbing jedoch war die letzten 16 Jahre seines Musikerlebens mit Künstlerin Ileana Selbing verheiratet.

Die Konditorei „Aroma“, nur ein paar Schritte weiter weg, in der sie sich 1956 zum ersten Mal verabredet hatten, gibt es bis heute. Ileana Selbing, damals 17 Jahre alt und an der städtischen Volksschule für Kunst lernend, hat keines der Komplimente vergessen, die Henry Selbing ihr anschließend überbrachte. Nur waren die Zeiten unwirtlich und ausdauerndes Warten nötig. Henry Selbing, der als 17-Jähriger tragisch seinen rechten Arm verloren hatte, heiratete zunächst eine Opernsängerin aus Jassy/Ia{i. Und Ileana, Tochter eines Ärzte-Ehepaars, den begnadeten Geiger Marius Giura, der in Moskau international gefeiert worden war und das kleine Laienorchester von Pite{ti zum Berufsorchester der Stadt ausbauen sollte. 1984 erfuhren Ileana und Henry Selbing voneinander, dass sie seit ungefähr gleichlanger Zeit verwitwet waren.

Bildende Kunst studiert hat Ileana Selbing in Bukarest, und versiert zuhören konnte sie bereits als junge Dame. In ihrem Wohnzimmer hängen nicht alleine schwarzweiße Aufnahmen von Henry Selbing, sondern auch ein Porträt von Marius Giura – beide hatten staatliche Behörden vom Nutzwert einer philharmonischen Berufsstruktur zu überzeugen gewagt. In Hermannstadt/Sibiu glückte es Henry Selbing, Ex-Student beim ebenso einarmigen Linkshänder Paul Wittgenstein im Wien vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, und dort sogar einmal Dirigent des Opernballs.

„Für mich zählten die 27 Jahre Altersunterschied nicht“, sagt Ileana Selbing über ihr Ehe-Idyll mit Henry Selbing. In Hermannstadt, wo sie bis 2003 bildende Kunst am Pädagogischen Gymnasium gelehrt und stolz keine einzige Sammelausstellung der Bildenden-Künstler-Kammer-Filiale verpasst hat, wohnt sie im dritten Stock mit Balkon zur Heltauergasse. Was sie am liebsten hört, woran sie sich oft gern erinnert und weshalb ihr ein arg übertriebener Sinn für Praktisches missfällt, eröffnete Malerin, Musik-Kennerin und Zeitzeugin Ileana Selbing.

Frau Ileana Selbing, Ihre Kindheit und Jugend fallen in den frühen Kommunismus. Auch während Ihres Einstiegs in das Berufsleben hatte sich im Rumänien der Nachkriegszeit noch nicht alles komplett geändert. Für Erwachsene wie mich und meine Generation beispielsweise, die das Land nicht anders kennen als es heute dasteht, sind Sie Trägerin einmaliger und spannender Erinnerungen an längst vergangene Welten, die so vermutlich nie mehr wiederkehren werden. Wie denken Sie an früher zurück?

Mein Refugium war immer die Kunst. Wobei das Wort „Refugium“ es noch nicht ganz genau trifft, nein, denn es war eine Leidenschaft, eine Passion. Zum Vorbild hatte ich Henry Selbing, der sich freute und stets dankbar war, mit nur der einen Hand all das getan haben zu können, was er schaffte, statt etwaigem Ärger und Frust freien Lauf zu lassen oder eifersüchtig auf Kollegen zu sein, die nicht mit dem Mangel zurechtkommen mussten, der seine Arbeit bestimmte. Ein außergewöhnlicher Mensch. Treue Konzertbesucherin war ich schon als Jugendliche.

Geboren wurde ich im Dorf Deda im Kreis Muresch, weiß aber nur rein statistisch davon. Mein Vater arbeitete dort als Arzt, doch sehr bald ging es auch für mich nach Hermannstadt zurück, weil er an die Front beordert wurde. In Hermannstadt habe ich noch vor dem Kommunismus den Kindergarten besucht. Meine Eltern und ich wohnten damals in einem noch nicht asphaltierten Viertel, wo eine Familie namens Schobel unsere Nachbarn im gleichen Haus waren, und wir Kinder verstanden uns wunderbar, hatten direkt vor dem Straßentor Platz zum Eislaufen, Schlittenfahren, und den Erlenpark um die Ecke.

Außer der bildenden Kunst packte mich sehr früh auch die Musik. Klavierspielen konnte ich nicht, obwohl wir zuhause eines hatten; um es richtig zu lernen, habe ich zu spät angefangen. Dafür hörte ich Radio und Langspielplatten, manchmal mit etwas Glück sogar ein Fernsehkonzert. Anton Bruckner und vor allem Gustav Mahler, dessen Symphonien ich alle genau kennenlernte, begeisterten mich von Anfang an. Natürlich ist auch Beethoven eine Konstante, aber für mich ist Mahlers Zweite das Höchste. In meiner Bibliothek steht eine Gesamt-Aufnahme seiner Symphonien.

Was für Eindrücke hat der Kommunismus in Ihnen als Schülerin ausgelöst?

Ab der 5. Klasse gab es Russisch als Pflichtfach. Ich merkte es nicht, aber mein Vater, der aus Salzburg/Ocna Sibiului stammte, war auf den Regime-Wechsel stinksauer. Eine ältere Lehrerin zum Beispiel, die sich nur noch mit Gehhilfe fortbewegen konnte und die ich sehr mochte, verweigerte sich jeder Anpassung und brachte uns weiter das gleiche, unveränderte Bild der Geschichte bei. Alle Antipathie rührte vom Russisch-Unterricht her, den eine unfreundliche und taktlose Muttersprachlerin gab.

Wie schwierig oder einfach war es damals, einen Radioapparat zu besitzen und LPs zu ergattern?

Einen Radioapparat hatten wir immer, nur im Fernsehen lief längst nichts anderes mehr als das kommunistische Angebot. Platten gab es in Bukarest zu kaufen, wo ich von Hermannstadt aus pendelnd studiert habe.

Vom Regime-Wechsel nach dem Zweiten Weltkrieg haben Sie als Kind zunächst nicht viel mitbekommen. Wie anders war das nach der Revolution 1989 als Lehrerin, lag so etwas wie Änderung oder Befreiung auch an der Schule in der Luft?

Die politische Konnotation hat mich im Lehramt nicht beschäftigt. Zu berücksichtigen gab es nur das Curriculum. Und ich habe sehr viele Generationen von Schülern erlebt, die regelrecht für bildende Kunst brannten und ihre Arbeiten auf allen Korridoren ausstellten. Ihre und meine Leidenschaft für Schöpferisches war so groß, dass der Eindruck von politischer Einengung gar nicht erst aufkommen konnte.

Kurze Zeit nach den blutigen Revolutions-Auseinandersetzungen habe ich für eine Sammelausstellung ein Bild mit der rumänischen Flagge entworfen, aus deren rotem Streifen sich nach oben hin eine Sieges-Geste entwickelte. Dem Bild gab ich den Titel „Victorie“ und habe es gerade eben vor ein paar Tagen wiederentdeckt, bin jedoch nicht mehr damit einverstanden. Es kommt aber auch nicht infrage, es zu übermalen.

Ihre Lebenseinstellung, Frau Selbing, stützt sich dezent auf eine großbürgerliche Gesellschaftskultur, die der kommunistischen Diktatur und Utopie ihren Widerstand zu bieten verstand. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie den feinen Unterschied zwischen Ihrer persönlichen Vorprägung und dem mondänen Hermannstadt von heute bedenken?

Ich habe das Gefühl, dass die Leute keinen Idealen mehr nachgehen und ihr Hunger nach praktischem Nutzen den affektiv-emotionalen Seiten des Lebens die Türe weist. Am Kunstgymnasium, wo ich die ersten Jahre meiner Laufbahn unterrichtet habe, und später all die Jahre am Pädagogischen Gymnasium, wo ich bis zur Pensionierung blieb, waren die Schüler immer auch Nicht-Praktischem gegenüber sehr aufgeschlossen. An Schulen hingegen wie bei-spielsweise dem Gheorghe-Laz²r-Gymnasium, wo ich als Rentnerin noch ein paar Jahre aushelfend unterrichtet habe, merkte ich sehr deutlich, dass die Jugendlichen es gewohnt waren, sich viel eher auf Praktisches zu konzentrieren.

Wer hat Sie künstlerisch bildend inspiriert?

Theodor Pallady hat mir gefallen, wegen seiner meditativen und einfachen, ins Abstrakte gehenden Art zu malen. Rembrandt und die außergewöhnliche Kraft von Michelangelo auch, nur habe ich nie einem Idol nachgeeifert.

Wer über Jahre hin regelmäßig Vernissagen in der eigenen Stadt besucht, merkt früher oder später, dass es einen bestimmten und kleinen Kern von Menschen gibt, die das Gleiche tun. Man sieht und trifft jedes Mal von Neuem dieselben Leute wie schon beim letzten Mal, bleibt zwangsläufig unter sich. Wie haben Sie das in früheren Jahrzehnten erlebt?

Stimmt, der Abteilung des Brukenthalmuseums für zeitgenössische Kunst bleibt außerhalb von Ausstellungseröffnungen das Publikum oft ganz weg. Vorgängerin der Humanitas-Buchhandlung bis 1993 auf der Heltauergasse/Nicolae B²lcescu war die Hermannstädter Galerie der Kammer der Bildenden Künstler, die auf die andere Seite der Straße umzog – dorthin, wo später die Gaststätte „The Gallery“ lief, die bis kürzlich wiederum den Namen „Gatsby“ trug und von einem billigen Kleiderladen abgelöst wurde. Dort wurde einmal ein Bild von mir gestohlen. Doch genau das war die Zeit, als die Galerie der Kammer der Bildenden Künstler noch richtig viel Publikum hatte. Es gab dort auch ein Stockwerk, und der Zustrom von Ausländern war enorm, sie reisten als Sammler durch ganz Europa und kauften ein. Jetzt, wo die Galerie ihr Quartier am Großen Ring/Pia]a Mare hat, geht niemand mehr hin. Und keiner kauft mehr etwas, weder die Ausländer noch die Einheimischen. Ich vermute, das liegt auch an den Erziehungs- und Bildungstendenzen von heute, die häufig nur noch den praktischen Nutzen bezwecken, wie gesagt. Und da beziehe ich mich nicht nur auf Rumänien, nein. Denn wäre das im Ausland anders, würden Ausländer ja doch noch Kunstwerke bei uns kaufen.

Wonach suchen Sie in der Begegnung mit anderen Menschen?

Zuallererst eine gemeinsame Vibration. Ein Gefühl gegenseitigen Vertrauens und Respekts. Ich bin Einzelgängerin und ein Mensch, dem es schwerfällt, sich anzufreunden. Das dauert bei mir lange, ich bin sehr zurückhaltend. Weil ich zweimal verheiratet gewesen bin und auch als Lehrerin, als Künstlerin stark beschäftigt war, hat es sich einfach nicht ergeben, Freundschaften einzugehen, in die ich viel investiere. Meine Ehepartner Marius Giura und Henry Selbing dafür habe ich über alles geliebt.

Das für mich Schöne am Alleinsein ist die Chance zur Meditation, das Nachdenken über die Kunst und Musik, davon lebe ich. Nicht vom Oberflächlichen der Beziehung zu anderen Menschen.

Woran konnte und kann man nachträglich die Tiefgründigkeit von Henry Selbing erkennen?

Es ist sehr bewegend für mich, zu wissen, wie beliebt er war. Aber alles hat seine Zeit und vergeht. Hier im Zimmer bewahre ich dicke Stöße alter Noten auf, die von Komponisten signiert wurden, die er kennengelernt hatte. Und viele Briefe an ihn aus aller Welt. Ebenso auch Dirigierpartituren mit seinen Eintragungen, die wirklich nur jemand wie er, also ein Linkshänder ohne rechte Hand, gebrauchen konnte. Henry Selbing war nicht damit einverstanden, seine Noten der Staatsphilharmonie zu überlassen, und ich habe nach seinem Tod dem wiederholten Drängen vom damaligen Chefsekretär des Orchesters, Sachen herauszurücken, auch nicht nachgegeben. Aber ich würde sehr gerne einen Stempel anfertigen lassen, mit dem die Partituren von Henry Selbing sich als das kennzeichnen lassen, was sie sind, nämlich als die Noten aus der Bibliothek eines Dirigenten, der nur einen Arm hatte. Eine Persönlichkeit seiner Qualität hat die Staatsphilharmonie Hermannstadt bis heute kein zweites Mal mehr zum Leiter gehabt.