Wahre Kunst

Symbolgrafik: sxc.hu

Beeindruckt streichen wir durch die Säle. Durch Säulengänge, über kostbare Bodenmosaike, vorbei an schmiedeeisernen Fenstergitterarabesken mit verschnörkelten Klinken. An den Wänden prangen in riesigen Rahmen – wirkungsvoll in Szene gesetzt – ein dunkelbraunes Quadrat, ein blassgrünes Quadrat und ein ockerfarbenes Quadrat. Im nächsten Saal ungefähr dasselbe. Und dann noch so ein Saal.
Bei der Vernissage treten sich die Menschen fast auf die Füße. Von den Lobpreisungen verstehen wir nichts, weil wir gar nicht mehr in den Raum passen. Dafür ergattern wir ein Glas Saft und eine Handvoll Erdnüsse am Büffet. Der Museumsdirektor, stets erfreut über die Präsenz der Presse, kommt mit ausgebreiteten Armen auf uns zu: „Na, ist das nicht wieder eine herrliche Ausstellung? Wunderbar! Begnadet, dieser Künstler!“ Wir nicken verlegen. Begründen können wir unsere Begeisterung nicht, aber es genügt, wenn der Direktor schöne Worte schwingt. George raunt mir ahnungsvoll zu: „Kannst du darüber was schreiben?“

Der Künstler ist von Bewunderern umzingelt. Wahrscheinlich muss er schon bald wieder selbst auf einer Vernissage reden. In Künstlerkreisen ist man ja auch schnell mal Kritiker, vor allem, wenn einem freundliche Zeitgenossen den gleichen Gefallen tun. So kennt man spätestens nach der dritten solchen Veranstaltung alle Gesichter in diesen Kreisen. Vor allem auch die der notorischen Büffetgäste, die sich hastig über Kekse, Chips und Rotwein in Plastikbechern hermachen – das Highlight des Abends, denn oft gibt’s nur Saft. Wer weiß, wann es überhaupt wieder was gibt... Wir verdrücken uns ohne Interview, denn wahrscheinlich hätte mir der überaus begnadete Künstler sofort angemerkt, dass ich von seiner modernen Kunst so viel wie ein Wurm von Quantenphysik verstehe. Peinlich, peinlich.

Auf der Heimfahrt grinst mich mein Mann plötzlich spitzbübisch-herausfordernd an: „Und, was wirst du schreiben?“ „Mach doch einen Vorschlag!“ schieße ich den Ball zurück. Prompt spitzt er sein Mündchen und flötet: „Der Künstler überwältigt mit der spürbaren Kommunikation zwischen Formen und Farben: Quadrate in vibrierendem Nussschalenocker und flirrendem Erdbraun auf chromatisch reduziertem kosmischblauem Grund. Die Fortsetzung der glasklaren Linien in die vierdimensionale Unendlichkeit, die allein im Gedankenraum geschieht... gebiert sie nicht die Idee an einen Hauch von Bewegung? Der minimalistisch nuancierte Hintergrund unterstreicht: Hier wird nichts verschwendet. Kein Pinselstrich lenkt von der kraftvollen Aussage der prägenden Strukturen ab. Der Künstler besinnt sich auf das Wesentliche – und schwingt sich gerade dadurch hoch auf in den erhabenen Raum der schöpferischen Leere...“

Bravo, George! Den Artikel hast du mir gerettet. Nun brauchst du eigentlich nur noch zu malen beginnen! Aber bitte nicht übertreiben: Ein paar poppig-kreative Quadrate, am besten in verhaltenen Grautönen auf dunkelschwarzem Grund, sind wirklich mehr als genug...