Warum und wo rumäniendeutsche Literatur sich gerne trifft

Im Tagungsfeld der Evangelischen Akademie Siebenbürgen

Für die Autorenlesung in deutscher Sprache einer Dialog-Passage aus dem Theaterstück „Verschwinden“, das von ihr auf Rumänisch („Dispariții“) geschrieben und 2019 im unabhängigen ungarischen Yorick Studio Theater Neumarkt/Târgu Mureș uraufgeführt wurde („Eltüntek“), bat Elise Wilk (links vorne, am Pult stehend) Thomas Perle (rechts vorne, am Tisch sitzend) um sein Einsteigen in ein Ad-hoc-Rollenspiel. | Fotos: der Verfasser

Frage von Schriftsteller und Philosoph Carol Neustädter am ersten Abend der Tagung: Hat die deutsche Literatur Siebenbürgens von heute Rückschritte oder Fortschritte im Vergleich zu jener von vor 45 bis 50 Jahren gemacht?

Kann man mit und in der Literatur eine Ausnahme machen, sobald es in der Welt von Sport, Musik, Kultur, Kunst, Theater, Theologie, Kirche, Geschichte und den Massenmedien nach längerer Ruhe vor dem Sturm wieder einmal eine markante Spur politischer als üblich zugeht? Wohl kaum. Wer das Einsteigen in die Debatte scheut, darf auch nicht ihren Ausgang zum eigenen Vorteil erwarten. Die Sache ist kompliziert und benötigt ausdauerndes Feingefühl im Umgang mit Nuancen, die sich nicht so leicht wie gewünscht kategorisieren und quantifizieren lassen. Schubladen-Denken ade! 

Diesen Schluss bekräftigten auch die Vorträge, Lesungen und das Gesprächsklima der Tagung „Von Minderheit zu Minderheit. Rumäniendeutsche Literatur zwischen Ost und West“ in der Evangelischen Akademie Siebenbürgen (EAS) in Neppendorf/Turnișor an der Ausfahrt von Hermannstadt/Sibiu Richtung Westen. Die EAS vor einunddreißig Jahren unter alles andere als einfachen Bedingungen beharrlich aus dem Boden gestampft hatte das Ehepaar Gerhard (†) und Dorothea Möckel. Das schließlich 2001 eröffnete und bis heute nach Diplomat Hans Bernd von Haeften benannte Konferenzzentrum der EAS war jüngst am Wochenende von Freitag, dem 29. April, bis Sonntag, den 1. Mai, ein Börsenlokal für den Diskurs über das bildungssprachlich deutsche Rumänien.

Neue Generation – andere Problemlage

Für Kirchengeschichtler Dr. Hermann Pitters, neunzig Jahre alt und zu jenen eingefleischten Siebenbürger Sachsen zählend, die der EAS in ihren zähen Anfangsjahren unbeirrt die Treue hielten, steht ohne allen Zweifel fest, dass „eine neue Generation“ und „eine neue, eine andere Problemlage“ im Jahr 31 nach Gründung der in Neppendorf ansässigen Akademie das aktuelle Maß der Zeit in Gesellschaft und Minderheit stellen. Zwecks Reaktion darauf hatte bereits Thomas [indilariu, Unterstaatssekretär im Departement für Interethnische Beziehungen im Generalsekretariat der Regierung Rumäniens, frei in den Tagungsraum gefragt, ob „es was Schöneres gibt, als in der Muttersprache über sich selbst nachzudenken?“. Am Ort, wo man laut Dr. Paul-Jürgen Porr, dem Vorsitzenden des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR), Bögen „von Religion zu Literatur“ und „vom Männerfrühstück zur Philosophie“ spannt, ein edles Unterfangen.

Tagungszentrum-Namensgeber und NS-Widerstandskämpfer Hans Bernd August Gustav von Haeften (1905-1944) , den die Konsulin der Bundesrepublik Deutschland in Hermannstadt, Kerstin Ursula Jahn, als einen „tiefgläubigen Juristen und Diplomaten“ bezeichnet, sorgte wie schon so oft für weltpolitische Ausgewogenheit im Ton der EAS. Um ihrem regionalen Publikum das bereits jahrzehntealte Modell zu erklären, nach dem sie erdacht und errichtet wurde, war eigens Pfarrer Dr. Christoph Picker aus Landau nach Neppendorf eingeladen worden, „eine deutsche Perspektive“ auf spezifische „Herausforderungen und Chancen für Evangelische Akademien in der postpandemischen Gesellschaft“ so unparteiisch wie möglich in Worte zu fassen.

Selbsthinterfragung auf Bundesrepublikanisch

Gleich zu Anfang seines halbstündigen Vortrags ein Versprechen aufzustellen, fiel dem Direktoren der Evangelischen Akademie der Pfalz nicht weiter schwer: „Sie erwarten von mir eine unbefangene Perspektive von außen, und die werden Sie bekommen!“ Zuoberst gelte es, „den öffentlichen Raum wiederzugewinnen“ und aus dem Stadium herauszufinden, worin Politik nur noch konsumiert wird und beispielsweise auch Kulturwissenschaftler sich mehr und mehr in ihren Kokon zurückziehen. Manches, so Theologe Dr. Christoph Picker aus der Bundesrepublik Deutschland, spräche dafür, dass „die Pandemie den öffentlichen Raum als Raum des politischen Austausches nachhaltig geschwächt hat.“ 

Evangelische Akademien als solche wurden wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Direktfolge auf den Sieg der Alliierten über Hitler-Deutschland bundesweit ins Leben gerufen. Mit der Richtlinie, „ähnliche Fehler“ in Zukunft zu vermeiden, und „Christentum und Protestantismus in den neuen Gesellschaften sinnvoll zu verorten und öffentlich zur Geltung zu bringen.“

Ein Grußwort vom Pult an die Zuhörenden der Tagung in der EAS hatte zuvor Reinhart Guib als der Bischof der Evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses „hier“ in Rumänien (EKR) gerichtet. Mittfünfziger Dr. Picker, 1966 in Hildesheim geboren und seit 2007 Lehrbeauftragter an der Ru-precht-Karls-Universität in Heidelberg, empfahl in seinem theologisch motivierten Vortrag den Weg eines ethisch sehr offenen statt unter keinen Umständen verhandelbaren Suchens von Frage und Antwort. „Wa-rum ist der Protestantismus, der einmal eine europäische Bewegung war, nicht Triebfeder der europäischen Integration, sondern warum hinkt er hinterher?“ So mancher Kopf im Publikum dürfte bei dieser ernsten Frage, die im sächsischen Siebenbürgen aus Eigeninitiative kaum angeschnitten wird, hellhörig geworden sein. „Anwendung militärischer Gewalt oder nicht? Wir machen uns in theologischer Hinsicht sicher so und so schuldig. Aber auch als Protestanten und Kirchenleute können wir uns nicht um die politische Frage herumdrücken, auf welche Weise wir uns denn schuldig machen wollen und auf welche Weise nicht“, schlussfolgert Dr. Christoph Picker betreffend den Ukraine-Krieg. Spannend für das DFDR, die EKR und die EAS, es einmal so zu hören.

Dass Dr. Florian Kührer-Wielach online zugeschaltet und noch am selben Freitag- abend seinen Vortrag „Die Deutschen in Rumänien und ihre vielen Wirs“ für die EAS mit der wohlwollend süffisanten Bemerkung einleitete, es sei „immer etwas Besonderes, wenn man Informationen aus dem Westen kriegt“, wurde von vielen physisch präsenten Zuhörern auch entsprechend humorvoll aufgenommen. Der Historiker und Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) interpretiert die Transformationen der deutschen Minderheit Rumäniens nach 1989 als einen Wandel, der jenen von 1918 „wohl noch übertrifft.“ Auch wenn Sprache und Literatur das Thema der Konferenz waren – ehe so recht über beides fachsimpelt werden konnte, musste der Rahmen des dazugehörigen Weltbildes in Form gegossen werden. Den letzten Schliff gab ihm Dr. Florian Kührer-Wielach. Er nutzte auch die Chance zum Aufstellen einer ersten von mehreren Hauptfragen, die auf der Tagung in der EAS einleuchten sollten: „Gibt es eine rumäniendeutsche Literatur, und falls ja, wo wollte und will sie sich sehen? Als kleine, eigenständige Literatur, oder doch in erster Linie als Teil der großen deutschen Literatur?“

Mit Sprache gegen  zu viel Vereinheitlichung von Welt

Vollständige Aufhebung von Unterschieden ist zwar strittig, aber dennoch ein aufsässiger Ausdrucksfilter der länderübergreifenden Aktualität. EU-Literaturpreisträger Claudiu M. Florian (2016), vor acht Jahren zum Direktor des Rumänischen Kulturinstitutes (ICR) in Berlin ernannt und bald auf derselben Position in London tätig, weiß aus Erfahrung, wie wichtig es ist, beim Auftritt vor der einen oder der anderen Publikumskategorie darauf zu achten, dass „das, was man schreibt, vor beiden den gleichen Bestand haben muss.“

Wächst Diplomatie für Intellektuelle, denen sie Broterwerb ist, hin und wieder zu einer ganz privaten Last des Alltags im öffentlichen Weltdorf an?

In der EAS konterte Claudiu M. Florian das international Überhand nehmende Gebot zu belanglosem Smalltalk. „In Siebenbürgen kann man sich nicht einfach nur am Lavendel ergötzen“, sagt er als 1969 in Reps/Rupea in eine sprachlich sowie kulturell gemischte Familie und Umwelt hinein geborener Stellvertreter seiner Generation, der erst viel später als Erwachsener versucht hat, den „historischen und kulturellen Faden“ durch seine eigene Biografie zu ziehen. Was für ein „Segen“ es ist, in der deutschen und der rumänischen Sprache gleichermaßen zuhause zu sein, betont er nicht bloß, um der Politik Genüge zu tun. 

Aus Unterschiedlichkeiten gezielt künstlerische Vorteile zu ziehen, statt sie so glatt wie möglich auszubügeln, geht Kulturschaffenden, die ihre eigentliche Arbeit weder um politische noch diplomatische Tätigkeit erweitern oder abrunden, der Natur der Sache gemäß oft etwas leichter von der Hand. ADZ-Redakteurin und Dramatikerin Elise Wilk, wie Schriftsteller Claudiu M. Florian auch zweisprachig aufgewachsen, übersetzt seit 2013 Theaterstücke aus der deutschen in die rumänische Sprache. Den umgekehrten Schritt lehnt sie strikt ab. Beim Selber-Schreiben hingegen stellt sich die Frage wiederum nicht mehr einfach. Aktuell von einem Theater im österreichischen Salzburg damit beauftragt, ein neues Stück zu verfassen, schwankt Elise Wilk (Jahrgang 1981) noch zwischen ihren Optionen Deutsch und Rumänisch. Auf Deutsch nämlich „würde es ein ganz anderes Stück werden.“ Vorerst arbeitet sie daran, eine Geschichte für das zu schreibende Stück zu finden. „Und dann kommt vielleicht auch die Sprache.“

Mehrfachidentitäten 

Nicht gegrübelt werden muss nur über die Frage, ob Dramatik eine literarische Form ist oder nicht. Trotz mancher Zweifel in der Szene besteht auch Thomas Perle darauf, dass die Dramatik nicht von der Literatur ausgeschlossen werden kann. Aber auch das Einschließen hat seine Tücken – vor allem, wenn es um Menschen auf der Suche nach Integration geht, wie der 1987 in Oberwischau/Vișeu de Sus geborene und 1991 mit seinen Eltern nach Deutschland emigrierte Theater-Autor wortspielerisch ins Feld führt. „Deutschland wurde Heimat aller heimatlosen Deutschen.“ Nicht zu vergessen auch der Schatz der Mehrsprachigkeit, der das Hierarchisieren von Idiomen verunmöglicht.

„Mich stört es nicht, gefragt zu werden, woher ich komme, weil ich das gerne erzähle, verstehe aber andere, wenn es sie stört.“ In der EAS traf Thomas Perle ins Schwarze. „Die Sprache meiner Mutter ist Rumänisch. Die Sprache, die ich mit meiner Mutter sprach, ist Deutsch. Meine Muttersprache ist Deutsch, meine Vatersprache Ungarisch, unsere Familiensprache ist Rumänisch. Auch meine Vatersprache nenne ich Muttersprache. Von allem ein bisschen ist mein Ganzes.“

Ein ethnischer Mischling zu sein ist keine Schande, im Gegenteil. Dr. Carmen Elisabeth Puchianu hält zurecht eine Menge auf ihre Kindheit im dreisprachigen Umfeld und führt an, Herta Müller habe realisiert, was Franz Hodjak seinerzeit couragiert voraussagte: „Die rumäniendeutsche Literatur kann auch mit rumänischem Pass auf europäisches Niveau vorstoßen.“ Das allerdings bedeutet auch, die Verlags-Frage offensiv anzugehen. Hora, Aldus oder vielleicht doch besser Traian Pop? Nicht allen deutschen Schriftstellern Rumäniens sagt es zu, im Ausland zu veröffentlichen. Zu den „Ultra-Bodenständigen“ zählt Joachim Wittstock. Allgemein ist dort, wo Joachim Wittstock, Eginald Schlattner, Balthasar Waitz und Michael Astner schreiben, für Dr. Carmen Elisabeth Puchianu „rumäniendeutsche Literatur.“

Er war mehr als ausreichend, der Stoff für die knapp elf Stunden Vortrags- und Lesezeit erfordernde Tagung „Von Minderheit zu Minderheit. Rumäniendeutsche Literatur zwischen Ost und West“. Zum Nachhören auf Youtube den Kanal „Evangelische Akademie Siebenbürgen“ wählen und mit der Zeit auf Tuchfühlung gehen.