Wer macht Tyrannen?

Randbemerkungen

Unter Präsident Leonid Kutschma – noch vor der „Maidan“-Revolte – hat sich die Ukraine eine Währung zurechtgelegt, die treffend den Zwiespalt wiedergibt, der durchs Land geht: Die volle Währungseinheit heißt ukrainisch „Griwna“, ihre Untereinheiten russisch „Kopijok“. Bei Johann Gottfried Herder, dem Aufklärer mit frühen ethnologischen Ansätzen, ist noch im späten 18. Jahrhundert nachzulesen, dass der immense Steppenraum zwischen Russland und Polen von „kleinen wilden Völkern“ bewohnt sei. So kommt es, dass heute in der Ukraine Ukrainisch und Russisch in etwa gleichermaßen gesprochen wird, dass aber ein Sprecher des Russischen nicht automatisch ein Russophile und schon lange kein Putin-Anhänger sein muss.

Das ist einer der Gründe, weshalb es irritiert, wenn manche Radio- oder Fernsehreporter mit (gut oder schlecht gespieltem) „maßlosem Entsetzen“ berichten, russische Truppen hätten „auch“ Russen getötet. Die sprachliche Distribution in der Ukraine ist keineswegs für die Haltung der Bevölkerung und auch nicht für ihre Ethnie aufschlussreich –  sie ist auch sehr schwer klärend zuzuordnen.

Fakt ist eher, dass die heutige Ukraine ethno-linguistisch eine Vielfachstruktur mit Überlappungen hat, an der weder Lenin, wie von Putin stur behauptet, noch sonst wer, sondern der Lauf der Geschichte „Schuld“ hat. Deshalb liegt die Ukraine in einem von Putins Stahlschädel erträumten „Großrussland“ nicht unbedingt am rechten Ort.


Wer den Kontakt zu Intellektuellen aus der Ukraine sucht, die hierzulande als Flüchtlinge leben, wird schnell merken, dass wir, die wir meinen, weltoffene Europäer zu sein, so gut wie nichts über die Ukraine wissen.

Dass wir sie bestenfalls bis zum 24. Februar 2022 als eine Art „Klein-Russland“ betrachtet haben. Die geflüchteten ukrainischen Intellektuellen sind durchwegs gesprächig und weltoffen, sie scheinen in ihren Gruppen (zumindest in Anwesenheit von Fremden) eine unangefochtene Autorität zu genießen (ob das mit Mentalität zu tun hat?), sind gebildet, auch einem Patriotismus verhaftet, den mancher, der sich „zutiefst als Europäer“ empfindet, spontan dem 19. Jahrhundert zuordnen mag. Das klingt auch bei Präsident Selenskyj gelegentlich durch.
Die Ukraine ist wie ein Land-zwischen-den-Welten und Zeiten, ein Übergangs- und Anpassungsgebiet zwischen Ost und West, zwischen Asien (inklusive Russland) und dem Abendland (inklusive USA), weil sie im Grunde nirgends voll und ganz hingehört. Ähnlich wie manche einmal die Rolle Rumäniens sahen. Nur ist ein Übergangsgebiet, im staatsgebietlichen Denken, also 19. Jahrhundert, ein Niemandsland. Wer braucht schon Vermittlung im oder aus dem Niemandsland? Zudem mit dem fatalen Ruf, durch und durch korrupt zu sein. Mit einer Bevölkerung voller Nostalgiker und Nationalisten, in Rumänien trauern, laut Umfragen, über 40 Prozent der Befragten Ceau{escu nach...

Aber haben Autokratien nicht oft einen starken Rückhalt im Volk, in der Vergangenheit, genauso wie heute im Falle des Diktators Putin, oder, vor Kurzem,des Autokraten Trump? Der Marquis de Custine schrieb im 19. Jahrhundert nach einer Russlandreise: „Unterdrückte Völker verdienen immer ihre Strafe; Tyrannei ist das Werk der Völker, nicht das Meisterwerk eines Einzelnen.“
Und der Schriftsteller Panait Istrati schrieb 1929 nach seiner 16-monatigen Sowjetunionreise: „Das wahre Drama meines Lebens und meiner Schriftstellerkarriere wurde in der UdSSR geboren. Dort sah ich, wie kompakte Massen – nicht einzelne Tyrannen – im Stande sind, ganze Völker von Brüdern und Schwestern zu tyrannisieren (...).  Ungerechtigkeiten von Gesellschaften gegen Gesellschaften sind nicht Verbrechen eines Stalin oder Mussolini, es sind Verbrechen von Kollektivitäten.“