Wer nicht spielt, kann nicht gewinnen

Die millionenschwere Glücksspielindustrie in Rumänien

Früchte am Spielautomaten | Foto: Wikimedia Commons

Es ist sieben Uhr morgens. Hinter den mit schwarzer Folie verdunkelten Fenstern flimmern mehr als 20 Bildschirme. Die Apparate gegeben Piep-Töne von sich, spielen kurze Liedfetzen ab, während grelle Lichterfolgen um die Bildschirme herum zum Hinsetzen animieren sollen. Mit einem Bier in der linken Hand sitzt S. H., ein 50-jähriger hagerer mittelgroßer Mann, vor einem der Apparate. Mit der rechten schlägt er in Sekundentakt auf einen rotaufleuchtenden Knopf. Auf dem Bildschirm drehen sich Melonen, Zitronen, Bananen, Kirschen und Quadrate mit der Inschrift „Bar“. 

Nach jeder Drehrunde erscheinen nach einem für Unwissende aleatorischem Muster Linien zwischen den Früchten und eine Summe flackert auf. Fehlen die Linien, fehlt auch die Summe. Seit Mitternacht sitzt S. H. vor dem Apparat. Die 2500 Lei, die er bei sich hatte, sind längst im Schlund des Spielapparates verschwunden. 700 Lei hat er sich anschreiben lassen, um weiter spielen zu können, man kennt ihn und er gehört zu den Ausnahmen, für die das gemacht wird. Als auch diese weg waren, konnte er sich noch von einem Bekannten weitere 500 borgen. Die gehen nun auch langsam zur Neige. Kein ungewöhnlicher Tag im „Büro“ wie S. H. die Spielhalle nennt. 

Casanova und „Caritas“

Der Traum vom schnellen Geld ist nichts Neues. Genau so wenig Glücksspiele, die dazu verhelfen sollen. Neben den Klassikern wie Poker, Würfel, Blackjack, Roulette, Wetten usw. kann eigentlich jedes vom Menschen erdachte Spiel in ein sich um Geld drehendes Spiel umgestaltet werden. Wer kennt nicht aus seinem Bekanntenkreis die älteren Herren, die Schach oder Backgammon für kleinere Summen spielen, nur um das Spiel „interessanter“ zu machen. Mit dem Erscheinen der Casinos im 19. Jahrhundert, ausgehend von den Salons, die in den Residenzen der Gutsituierten organisiert wurden, erhalten die Glücksspiele einen gewissen elitären Charme. Dieses führte seinerseits, mit der Zeit, zur „Demokratisierung“ der Glücksspiele durch das Erfinden der Spielautomaten und dem Erscheinen der Spielhallen. Vergessen sollte man aber in diesem Kontext auch nicht, dass das meistverbreitete Glücksspiel der Welt die Lotto-Zahlen sind. 2004 war Lotto noch das beliebteste Glücksspiel in Deutschland. Diesem Spiel verhalf kein andrer als Giacomo Casanova zur Bekanntheit. Er „importierte“ es aus Genua nach Venedig und Berlin. Bekannt ist aber die auf ihn zurückzuführende Gründung der französischen Staatslotterie, die mittels eines Dekrets vom 15. August 1757 genehmigt und ins Leben gerufen wurde. Hier findet man die erste Verbindung zwischen staatlicher Einnahmequelle und den Glücksspielen. Ein System, welches sogar von der kommunistischen Diktatur in Rumänien aufrecht erhalten wurde. Zwar waren Glücksspiele verboten, doch Lotterie und Sportwetten wurden staatlich betrieben. Das Versprechen vom schnellen Geld griff in Rumänien nach der Wende, während  der Jahre der sogenannte nTransformationsgesellschaft in den 90ern, in einem noch nie dagewesenen Maße um sich: Pyramidenspiele wie „Caritas“ ließen viele Rumänen ohne ihr Erspartes zurück. An-drerseits kann jeder eine Geschichte über die Arbeiter, die auf dem Heimweg aus dem Westen, an einer Tankstelle in Österreich oder Ungarn, bei einem Alba-Neagră-Spiel in Minuten ihr über Monate schwer erarbeitetes Geld loswurden, erzählen. Es dürstete die Menschen nach Geld – und dieser im tiefsten des eigenen Wesens verspürte Durst musste schnellstmöglich gelöscht werden. Wenn auch die rumänische Gesellschaft solcher Glücksspielsysteme gegenüber inzwischen skeptisch geworden ist, hat sich für die Glücksspielindustrie, einhergehend mit dem Steigen der Einkommen, eine neue Marktlücke aufgetan. Diese galt es zu bespielen, was in den Jahren nach 2007 auch tatsächlich geschah. 

Eine Sucht, die keine Krankheit ist

Ein weiteres Bier und einen Kaffee vor sich, Getränke gehen für Dauerkunden auf Haus, scrollt S. H. die Namen in seiner Telefonagenda durch. Nach zwei Sachen hält er Ausschau: wem schuldet er kein Geld oder wer könnte ihm einen Auftrag, der mit einer Anzahlung verbunden ist, besorgen. S. H. hat immer ein wenig zu viel getrunken. In seiner Branche galt und gilt er noch als sehr begabt, doch hält er sich nun mit Aufträgen, in denen seine Handfertigkeit gefragt ist, über Wasser und weniger mit seiner eigentlichen künstlerischen Begabung. Des Trinkens wegen ging seine erste Ehe in die Brüche. Die Spielsucht zerstörte die zweite. Er hatte sich bei Kredithaien verschuldet und wurde, weil er mit dem Geld nicht aufkommen konnte, des öfteren verprügelt. Er floh vor den Kredithaien mehrere Male aus der Stadt und blieb über Monate verschwunden, bis er letztendlich die gemeinsame Wohnung an diese abtreten musste. Frau und Tochter landeten von heute auf morgen auf der Straße, wobei die Gattin den für den Kauf der Wohnung aufgenommenen Immobilienkredit weiterhin abzubezahlen hatte.   

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Einstufung der Glücksspielsucht als Sucht immer noch umstritten ist. Zum Unterschied von Alkoholabhängigkeit, Drogensucht usw. wurde Spielsucht bis heute nicht als Krankheit eingestuft, obwohl Studien zum Dopaminspiegel von pathologischen Spielern dieses nahelegen würden. Es würde Bestrebungen und Verhandlungen in diese Richtung geben, doch wann und ob dieses geschehen wird, ist unklar, erklärte Dr. Holger Lux, Leiter des Suchttherapiezentrums „Nazareth“, welches vom Blauen Kreuz Rumänien in Kleinscheuern/Șura Mică betrieben wird, in einem Gespräch. Dabei sind die Zahlen sowohl auf internationaler wie auch auf nationaler Ebene besorgniserregend. Im Therapiezentrum selber ist die Zahl der Spielsüchtigen, die sich in Behandlung befinden, in den letzten fünf Jahren auf ungefähr 15 Prozent angestiegen. Laut einer Studie von Dr. Andriana Hatoș von der Universität in Großwardein/Oradea, im Rahmen derer sie mehrere Forschungsergebnisse zusammenführt, sollen weltweit ungefähr fünf Prozent der Erwachsenen Probleme mit Glücksspielen haben, wobei in Rumänien sieben Prozent der jungen Erwachsenen der Gefahr, gegeben durch die Glücksspiele, ausgesetzt sein sollen und vier Prozent sollen Suchtverhalten aufgezeigt haben. „Das Risiko, ein pathologisches Glücksspielverhalten zu entwickeln, ist bei Männern höher, sowie bei gefährdeten sozioökonomischen Gruppen: weniger gebildete Menschen, Arbeitslose, Alleinstehende und Angehörige bestimmter Minderheiten“, heißt es in der besagten Studie. Problematisiert wird dabei auch das Verhalten, was die Online-Glücksspiele betrifft, wobei hier die jungen und sehr jungen Generationen betroffen sind. Die Studie hält fest, dass auch in diesem Bereich neue Herangehensweisen notwendig sind: „Die Legalisierung von Online-Glücksspielen hat zu einem Anstieg der Online-Spielsucht geführt, was die Notwendigkeit einer verantwortungsvollen Online-Glücksspielpolitik unterstreicht. Diese Maßnahmen konzentrieren sich häufig darauf, die Kunden über die Risiken des Glücksspiels zu informieren und auf die Förderung eines verantwortungsvollen Spielverhaltens.“

Die Millionen, die das Glücksrad drehen

Geht man die Mihai-Viteazu-Straße entlang, eine der wichtigsten Verkehrsstraßen in Hermannstadt/Sibiu, findet man nicht mehr und nicht weniger als acht Spiel- und Wetthallen. Das Straßenbild wird von genau so vielen Apotheken vervollständigt. Ein Bild, welches in jede andere rumänische Stadt übertragbar ist. Welche Schlüsse betreffend die rumänische Gesellschaft daraus gezogen werden können, soll an dieser Stelle offen gelassen werden. Die Glücksspielindustrie in Rumänien (diese umfasst alles von Casinos über Spielautomaten und -hallen bis zu Wettspiele  off- und online) wird von der Nationalen Glücksspielbehörde (Oficiul Național pentru Jocuri de Noroc), welche dem Finanzministerium innerhalb der rumänischen Regierung untergeordnet ist, geregelt und kontrolliert. Der jüngste vorhandene Tätigkeitsbericht betrifft die Arbeit der Behörde im Jahr 2022, ist aber aufschlussreich, was die Dimensionen dieser Industriesparte betrifft. Laut diesem Bericht wurden 2022 rumänienweit insgesamt 89.913 Lizenzen für Spielstellen (Spielautomaten) erteilt. Für jeden dieser Apparate müssen die Betreiber eine Gebühr von 400 Euro als „Suchttaxe“ (taxă anuală de viciu) jährlich entrichten. In dem gleichen Jahr wurden Genehmigungen für 12.051 Arbeitspunkte für Wettstellen ausgestellt. Nur aus der Linzenzerteilung für Spielautomaten betrugen die Einnahmen der Behörde 75.738.570 Lei (ungefähr 15,5 Millionen Euro), die von 254 Betreibern einkassiert wurden. Für die Online-Spiele betrugen die Einnahmen (inklusive Lizenzierung, Einkommenssteuer, Suchttaxe) insgesamt 1.633.914.142,12 Lei (ungefähr 333,5 Millionen Euro). Laut einer Mitteilung von „Ziarul Financiar“ vom 8. Oktober 2023 haben die Rumänen im Kalenderjahr 2022 für Offline- und Online- Glücksspiele, inklusive Sportwetten, 11,7 Milliarden Lei (2,4 Milliarden Euro) ausgegeben. Ein Wachstum von 15 Prozent zum Vorjahr. 

Zu diesen Summen hat auch S. H. seinen Teil beigetragen. Er wird es auch weiterhin tun, denn die Möglichkeiten dazu trifft er bei Schritt und Tritt an und weitere sprießen noch immer wie Pilze aus dem Boden. Vor etwas mehr als einem Monat wurden in Rumänien Spielhallen und Spielautomaten in Ortschaften mit weniger als 15.000 Einwohner verboten. Dieses entspricht nicht einmal einem Tropfen auf den heißen Stein. Schaut man sich das Profil des Durchschnittsspielers an: männlich, zwischen 18 und 24 Jahre alt, alleinstehend, mit einem Einkommen von ungefähr 500 Euro pro Monat, im städtischen Umfeld lebend, muss man sich fragen, für wen diese Maßnahme eigentlich gedacht ist. Man könne vermuten, dass es sich erneut nur um eine Rauchwolke handelt, die zeigen soll, dass man sich des Problems bewusst ist, dass man sich diesem stellt, aber in Wirklichkeit alles beim Alten lassen will. 

Die Stärke der Glücksspielindustrie und ihre finanzielle Kraft kann man auch der massiven Werbung für die Branche entnehmen. Keine Werbepause im Fernsehen ohne Spots für Sportwetten und Onlinecasinos. So gut wie keine Fußballmannschaft, Nationalmannschaften nicht ausgeschlossen, die nicht auf dem Trikot den Namen eines Wettenbetreibers führt. Sendungen, von den gleichen Betreibern finanziert, mit beratenden Sportstars besetzt, die das Wetten zu einer Sportart hochstilisieren. Und überall Plakate, die einem versprechen, dass nur wenn man wie ein Profi spielt, man wie ein Profi gewinnen kann. 

S. H. versteht sich auch als Profi. Er kann das System eines jeden Apparates erklären, an dem er spielt. Er hat es durchschaut. Jetzt wartet er nur noch auf den großen Gewinn. Aber er kennt auch die Binsenwahrheit: „Wer nicht spielt, kann nicht gewinnen.“