Wie hängen Mehrsprachigkeit und Identität zusammen?

Studie über plurikulturelle Lebensbilder in Siebenbürgen und im Altreich: zum Nachdenken, Reflektieren, Weiterdenken

Sprache formt das Denken. Und Mehrsprachigkeit - so die Wissenschaft – macht flexibler, fördert die Merkfähigkeit und das visuelle Gedächtnis. Doch wie hängen plurikulturelle Sprachsituationen und Identität zusammen? Wie mit Zugehörigkeits- oder Heimatgefühl? „Ich bin immer dieselbe mit meinen drei Sprachen“, sagt die siebenbürgisch-sächsische Schriftstellerin Karin Gündisch in einem Interview im Buch „Rumäniendeutsch, Identität(en) und Lebensbilder. Siebenbürgen und Altreich“ (wbv-Verlag Berlin) von Ioana Maria Cusin, Ioana Hermine Fierbințeanu und Ileana-Maria Ratcu vom Germanistik-Lehrstuhl der Uni Bukarest. 

Neben einer ausführlichen wissenschaftlichen Annäherung an den Zusammenhang von Sprache und Identität anhand von Spracherwerb und Bilingualismus, dem siebenbürgisch-sächsischen Urkundenwesen, dem Einfluss von Kirche und Schulwesen auf den Erwerb und Erhalt der deutschen Sprache in Rumänien etc. werden anhand von Interviews auch subjektive Aspekte der Identität untersucht, die durch Mehrsprachigkeit vermittelt werden: Zusammengehörigkeitsgefühl, Fremdheitserfahrung, Code-Switching, Sprache als Zugang zu einer spezifischen kulturellen Welt und vieles mehr.

Häufiger Sprachwechsel als Teil des Heimatgefühls

Zweisprachig, dreisprachig, mehrsprachig - was bedeutet das überhaupt? Die Hintergründe der Probanden beleuchten: Manche haben zwei Sprachen gleichzeitig erworben, z.B. in gemischten Familien, manche nacheinander, häufig in verschiedenen Konstellationen, sodass jede Sprache einen anderen Funktionsbereich des Lebens abdeckt. So gibt es für viele neben der Muttersprache eine Großelternsprache, eine gemeinsame Küchensprache für die ganze Familie, eine Einkaufssprache, eine Bildungssprache, dann die Sprache, in der man schreibt, eine Sprache für die Arbeit und vielleicht eine andere für Gebete - die sich manchmal mehr, manchmal weniger überlappen, weil das Vokabular nicht immer alle Bereiche gleichermaßen abdeckt. 

Doch auch Mehrsprachigkeit an sich ist Teil der Identität eines Menschen, vor allem dort, wo ständiger Sprachwechsel normal ist, wie in Siebenbürgen, und daher auch Teil des Heimatgefühls. So verrät die dreisprachig aufgewachsene Evemarie  Draganovici, Germanistikdozentin aus Tekendorf/Teaca, die mit der Mutter ungarisch, mit dem Vater deutsch, mit dem Bruder beides und mit den Nachbarskindern rumänisch sprach, als heutige Küchensprache das Ungarische pflegt, aber auf Deutsch schreibt, dass sie sich Aufrund dieses pluriethnischen Hintergrundes ein Auswandern niemals vorstellen konnte. 

Für eine andere Interviewte, die Kronstädter Germanistin Carmen Elisabeth Puchianu, ist die pluri-ethnische Konstellation ihres Freundes- und Kollegenkreises für das Zusammengehörigkeitgefühl sogar wichtiger als ethnische Kriterien. Mehrere Interviewte deuten an, dass die ethnischen Gruppen, denen sie angehören, inzwischen viel zu klein sind, um noch Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln. Draganovici beschreibt sich gar „als Mischling“, der „nie irgendwo reingepasst hat“, war aber damit zufrieden.

Code-Switching als verbindendes Element

Zu den verbindenden Elementen Mehrsprachiger gehört in vielen Fällen das Code-Switching, das Mischen von Sprachelementen, das allgemein nicht als Fehler empfunden wird, sondern als absichtlich eingesetzter, parodistischer Spaß, einende Pausenhofsprache im Fall der Honterusschüler („Honterusdeutsch“) oder gar als intellektuelle Herausforderung für jene, die beide Sprachen ausreichend gut beherrschen. So fragte man sich unter Schülern: „Ai lernerit?“ „ți-ai facut Hausaufgabe?“ „Te-a prüfenit?“

Handelt es sich dabei um einen gezielten Akt, wird Code-Switching seitens der Beteiligten als Beweis für Flexibilität und Souveränität im Umgang mit der Sprache erachtet. Während es unter zweisprachigen Erwachsenen als Kompetenz gilt, kann es in den Anfängen der Sprachentwicklung auch aus Wortnot heraus geschehen. Code-Switching wird aber auch dann angewandt, wenn ein Wort in der verwendeten Sprache nicht das gleiche innere Bild vermittelt, wie das aus der anderen Sprache geborgte: etwa „sich deskurkieren“, von rumänisch „a se descurca“, die Fäden entwirren, auf Deutsch: „zurechtkommen“.

Persönliche Anknüpfungspunkte und Denkanstöße

Die Bekenntisse der Interviewten, auch wenn sie nicht immer übereinstimmen, ziehen einen fasziniert in das Thema hinein. Unwillkürlich entdeckt man Gemeinsamkeiten, stellt sich eigene Fragen. Code-Switching als Spaß - wer kennt das nicht? Hier ein eigenes Beispiel: Auf die Frage eines Dritten, was ich gerade tue, antwortet mein rumänischer Ehemann scherzhaft: „arbaiteaza!“ - sie arbeitet. Das Wort klingt für ihn, anders als „lucreaza“ oder „la servici“, nach „deutscher Disziplin“. Unterschiedliche Sprachmelodie - auch hierzu ein Erlebnis: Ein Schweizer Bekannter, der mich zum ersten Mal rumänisch sprechen hörte, rief plötzlich erstaunt aus: „Du hast ja den gleichen jammernden Singsang wie die Rumäninnen!“ Warum ist meine Stimmlage auf Rumänisch höher als auf Deutsch? Und warum am tiefsten auf Englisch? Was sagt dies über die Sprache an sich, was über mein Gefühl beim Sprechen aus? Ändert sich das Selbstgefühl bei gleichem Inhalt mit der Sprache? Auch hierzu ein paar Gedanken: Auf Deutsch sagt man: „ich wurde geboren“, „ich bekomme ein Baby“ und man „lässt“ einen Pups - alles passiv. Auf Rumänisch aber gebiert man sich selber („m-am nascut“), das Ba-by fabriziert die Mutter in ihrem Bauch („fac un copil“) und der Pups entfleucht einem nicht versehentlich, sondern wird aktiv geschossen („a trage un pârț“). Und während man im Deutschen präzise zwischen ähnlichen Tätigkeiten unterscheidet: aufsteigen, absteigen, umsteigen, einsteigen, draufsteigen, drübersteigen, reinsteigen, daneben steigen... gibt es im Rumänischen für vieles Unterschiedliche oft nur ein Verb: „a călca“ (bügeln, betreten, draufsteigen, ein Huhn begatten, jemanden überfahren, ein Gesetz verletzten...) oder „a da“ („a da cu mătura“; kehren, „a da din coada“: mit dem Schwanz wedeln, „a da o palma“: eine Ohrfeige geben, etc....). Ist Rumänisch nun ärmer als Deutsch – oder eher kreativer? Und wie wirkt sich das auf den Sprecher aus? 

„A luat-o la arătură!“ mögen die Buchautorinnen über diese eigenmächtigen Abschweifungen jetzt denken. Doch ist es nicht bemerkenswert, wenn ein Buch einen solchen Schwall weiterführender Fragen auslöst?

Die Sprachenvielfalt bereichert

Wer sich auch gerne zu solchen Gedanken anregen lässt, sollte das Buch von hinten zu lesen beginnen: bei den Interviews mit Kilian Dörr (evangelischer Pfarrer in Mediasch), Evemarie Draganovic (Germanistin aus Tekendorf, heute Bukarest), Karin Gündisch (Schriftstellerin, in Heltau/Cisnădie aufgewachsen, heute pendelt sie zwischen dort und Hamburg), Ioan Gabriel Lăzărescu (Germanist in Bukarest), Maria Muscan (die Kindheit in Frauendorf/Axente Sever und Hermannstadt/Sibiu verbracht, heute Ger-manistin in Konstanza) und Carmen Elisabeth Puchianu (Germanistin in Kronstadt/Brașov). 

Manche Aussagen der Interviewten sind freilich subjektiv, hängen von persönlichen Erfahrungen ab. Doch in einem Punkt sind sich alle einig: Die Sprachenvielfalt in ihrem Kopf bereichert, ohne die Integrität der Persönlichkeit infrage zu stellen – und unabhängig davon, ob in manchen Anwendungsbereichen Defizite bestehen. „Meine Identität setzt sich aus allen diesen Bestandteilen zusammen und reflektiert von jedem etwas“, sagt Carmen Elisabeth Puchianu. Ioan Lăzărescu hingegen erklärt: „Wieso soll ich (auf eine Identität) verzichten wollen? Es hieße, ich zerlegte mich selber in Stücke. Was bliebe dann?“ An anderer Stelle illustriert er, mit zwei Konfessionen aufgewachsen: „In der (katholischen St. Josefs-) Kathedrale betete ich vor den Statuen und in den orthodoxen Kirchen vor den Ikonen, und es war für mich immer EIN GOTT, den ich anbetete.“ Maria Muscan erzählt: Das „Ave Maria“ betet sie auf Deutsch, das „Vater Unser“ auf Rumänisch.

Mehrsprachigkeit und der ständige Wechsel zwischen den Sprachen – auch jenen, die man vielleicht gar nicht versteht: so erwähnt Lăzărescu, dass es zwischen seinen Eltern Französisch als Geheimsprache gab, für Dinge, die die Kinder nicht hören sollten - verleiht ein ganz eigenes Lebensgefühl! Ein Gefühl, das jenen, die das nicht kennen, fehlt, und das die Zugehörigkeit zu einem solchen Sprachraum – ein Stück Heimatgefühl also –  vermitteln kann. Etwas, das dem mehrsprachigen, plurikulturellen Rumäniendeutschen plötzlich fehlt, wenn er in ein Umfeld gelangt, das diese Erfahrung nicht bietet, wie dies bei den Ausgewanderten meist der Fall ist. Oder wie es Maria Muscan beschreibt, nachdem sie von Siebenbürgen nach Konstanza kam, wo auf einmal nur Rumänisch gesprochen wurde: „Das war für mich unbekannt und auch befremdend.“ Ganz anders ihre Hermannstädter Lyzeumszeit davor: „Ich hatte Kolleginnen aus dem ganzen Land, sogar auch aus Bukarest, und die meisten konnten kein Sächsisch. Weil Sächsinnen aus Mediasch und Großpold/Apoldu de Sus sich kaum verstehen konnten, haben wir alle Deutsch gesprochen und unbewusst auf Rumänisch geswitcht. Wir wussten, dass alle denselben Sprachenmix sprechen. Es war ein Hin und Her.“ Mit ihrer Tochter betreibt sie heute wieder Code-Switching: „Das ist Teil meiner Identität geworden.“ 

Karin Gündisch sagt: „Es gibt aber eine bestimmte Art von Gefühl, die nur in Siebenbürgen aufkommt?“ Ist es das, was sie damit meint?