„Wir sind die Hälfte der Weltbevölkerung, und der anderen Hälfte haben wir das Leben geschenkt“

Mihaela Tudor, die Initiatorin der NGO „#WeAreHalf“, erklärt die Inspiration hinter ihrer Bewegung

Mihaela Tudor | Foto: wearehalf.org

Die Initiative „#WeAreHalf“, die von Mihaela Tudor mitbegründet wurde, setzt sich für die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen ein. Dabei verfolgt sie einen inklusiven Ansatz, der sowohl Frauen als auch Männer einbindet, um strukturelle Hürden abzubauen. Besonders in Rumänien, wo traditionelle Rollenbilder noch stark verankert sind, sieht die Bewegung Handlungsbedarf. Durch Aufklärung, Vernetzung und Mentoring-Programme soll Gleichberechtigung in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen gefördert werden. Die Fragen stellt Vanessa Freihammer.

Frau Tudor, wie kam es zu der Idee zu „#WeAreHalf“? Können Sie uns etwas über die Entstehungsgeschichte der Initiative erzählen?
Die Idee kam mir vor etwa zweieinhalb Jahren, als ich von der Entscheidung der Europäischen Kommission erfuhr, dass alle Unternehmen dazu aufgefordert werden, 50:50 in ihren Vorständen zu haben, also dass die Hälfte der Mitglieder Frauen sein sollen. Ich dachte, das ist ein historischer Moment, weil, obwohl Frauen weltweit viele Fortschritte gemacht haben, sich in Bezug auf Führungskräfte nichts drastisch ändern wird. Also sprach ich mit meiner Kollegin Daniela, die ebenfalls Teil der Vereinigung ist. Ich sagte: „Schau, Daniela, wir müssen etwas tun, sonst wird es in Rumänien noch 30, 40, 50 Jahre dauern, bis wir dieses Gleichgewicht erreichen.“ Sie meinte, „ja, wahrscheinlich, aber was können wir tun? Wir sind nur wir, und die Gesellschaft ist so patriarchalisch, wir können das nicht ändern.“ Ich sagte: „Lass uns einen konstruktiven Weg finden, der nicht als stark feministische Bewegung wahrgenommen wird, weil Männer dann weniger bereit wären, das zu unterstützen, was wir ja auch für sie erreichen möchten, nicht nur für uns Frauen.“ Wir brainstormten, und eine ältere, weise Frau sagte bei einer Veranstaltung für Frauen in einem anderen Land einmal: „Denkt daran, wir sind die Hälfte der Weltbevölkerung, und der anderen Hälfte haben wir das Leben geschenkt.“ Für mich war das so kraftvoll, so stark. Ich dachte, das bedeutet, dass wir die Hälfte eines Ganzen sind. Männer sind die andere Hälfte, und wir müssen sie fair behandeln, auch wenn wir manchmal denken, dass wir das nicht tun. So wurde „#WeAreHalf“ geboren.

Sie wollen eine Bewegung schaffen, bei der sich Menschen unter einem „Schirm“ versammeln können. Welche Ziele sollen erreicht werden?
Das Hauptziel ist, 54 Prozent der Frauen im Alter von 18 bis 65 Jahren, die nicht auf dem Arbeitsmarkt aktiv sind, zu aktivieren. Was ich gelernt habe, ist, dass das Bruttoinlandsprodukt sich verdoppeln würde, wenn nur acht Prozent dieser Frauen in den Arbeitsmarkt eintreten würden. Das ist aus wirtschaftlicher Sicht wichtig, weil Frauen mit finanzieller Unabhängigkeit die Zügel ihres Lebens in der Hand haben. Wenn sie misshandelt werden, haben sie die Mittel, ihr Leben zu ändern. Sozial gesehen ist es wichtig zu verstehen, dass Frauen die Hauptverantwortung für die Erziehung von Kindern tragen. Wenn sie nicht gut ausgebildet sind, wirkt sich das auf die Kindererziehung aus.

Wie viele Personen sind in dieser Bewegung involviert und können Sie mir mehr darüber erzählen, welche Rollen sie übernehmen?
Rund 3000 Personen sind Teil der Community. Einige übernehmen aktive Rollen, andere möchten an unseren Veranstaltungen teilnehmen, als Mentoren agieren oder einfach dabei sein, um Informationen zu erhalten.

Wie bleiben Sie mit den Mitgliedern in Kontakt?
Wir haben eine Facebook-Gruppe, einen monatlichen Newsletter und in jeder Stadt, in der wir Botschafterinnen haben, eine WhatsApp-Gruppe.

Wie wird man Botschafterin? Wer vergibt diese Rolle und was sind ihre Aufgaben?
Der Vorstand entscheidet, wer Botschafterin wird. Botschafterinnen sind in der Regel erfahrene Frauen mit einem hervorragenden Ruf, oft hochkarätige Frauen, die bereits bekannt sind und eine Community um sich haben. Sie können sich selbst vorschlagen oder von anderen vorgeschlagen werden. Im Vorstand analysieren wir das Profil, sprechen mit ihnen und führen ein Interview, um sicherzustellen, dass sie wirklich bereit sind, sich zu engagieren und an unsere Mission glauben. Nachdem sie Botschafter geworden sind, erhalten sie ein Panel, werden befördert, treten als Sprecher auf, werden Trainer und Mentoren für andere Frauen, die noch daran arbeiten, ihre Ziele zu erreichen.

Welche Probleme sehen Sie in Rumänien, die Frauen daran hindern, wirtschaftlich unabhängiger zu werden?
Die rumänische Gesellschaft ist sehr patriarchalisch, den Frauen wird immer noch oft gesagt, dass sie keine Karriere machen sollen, sondern sich um die Bedürfnisse ihrer Ehemänner und Kinder kümmern. Es ist schwer, eine Karriere zu verfolgen, wenn du gleichzeitig der Meinung bist, dass du dich um die Familie kümmern musst. Das größte Problem ist, dass die Gesellschaft Frauen nicht ermutigt,  Karriere zu machen, obwohl viele Frauen in Rumänien Universitätsabschlüsse haben, sogar mehr als Männer. Es gibt auch viele Probleme wie häusliche Gewalt und minderjährige Mütter, bei denen Rumänien in Europa mit-führend ist.

Was ist der Plan der NGO, um Frauen in dieser Situation zu helfen?
Wir haben drei Hauptpfeiler in unserer Kampagne. Der erste ist „Hall of Femme“, wo Frauen ihre Geschichten teilen, um andere zu inspirieren. Der zweite Pfeiler ist eine landesweite Karawane, bei der wir Frauen in verschiedenen Städten erreichen, um sie zu unterstützen, betreuen und beraten. Und die dritte Säule richtet sich an junge Menschen im Alter von etwa 17 oder 18 bis 25 Jahren, also Schüler und Studierende, die sowohl Berufsberatung als auch Beratung zur Geschlechtergleichstellung erhalten. Ziel ist es, ihnen beide Perspektiven aufzuzeigen, damit sie erkennen, dass es von Vorteil ist, gemeinsam zu arbeiten und ihre eigenen Ziele im Leben zu definieren. Gleichzeitig sollen Männer ermutigt werden, Berufe zu wählen, die traditionell als „typisch weiblich“ gelten, und umgekehrt Frauen dazu, sich für vermeintlich „männliche“ Berufe zu entscheiden.

Was passiert konkret im Rahmen der Karawanen-Veranstaltungen?
Im Rahmen der Karawane werden wir etwa 150 Frauen treffen. Einige suchen Unterstützung in Form von Mentoring, Training oder sind an Rekrutierungsmöglichkeiten interessiert. Das variiert von Veranstaltung zu Veranstaltung. In diesem Jahr haben wir erstmals eine direkte Rekrutierung eingeführt. Bisher haben wir lediglich Stellenangebote beworben, ohne die Bewerber gezielt vorzubereiten. Nun analysieren wir ihre Lebensläufe, unterstützen sie aktiv und bringen sie mit Beratern zusammen, die ihnen helfen, den Job zu finden, den sie wirklich brauchen und wollen.

Was sind die größten Herausforderungen für Frauen, die sich entscheiden, zu Hause zu bleiben und keine Karriere zu machen?
Ich denke, es ist völlig in Ordnung, wenn man sich dafür entscheidet,  Hausfrau zu sein und keine Karriere zu verfolgen, aber man muss verstehen, dass man sich damit einigen Herausforderungen stellt, die im Leben auftauchen können. Statistisch gesehen gibt es diese Herausforderungen, und wenn man sich nicht darauf vorbereitet oder zumindest bewusst ist, dass sie existieren, und sich trotzdem dafür entscheidet, zu Hause zu bleiben und die Kinder großzuziehen, dann ist es die eigene Wahl. Aber man muss wenigstens verstehen, dass man, wenn man finanziell von einer anderen Person abhängig ist, weniger Geld zur Verfügung haben wird.
Ich habe so viele Geschichten über Frauen gehört, die in dieser Situation sind, und es ist wichtig, dass Frauen sich dieser Gefahr bewusst sind. Wenn man sich dafür entscheidet, ist das eine persönliche Wahl, aber wenn man finanziell unabhängig ist, hat man eine Wahl. Und falls es einem dann passiert, hat man zumindest die Freiheit, darauf zu reagieren.

Haben Sie vor, speziell Frauen anzusprechen, die in diese Denkweise fallen?
In unserer Karawane sprechen wir besonders über diese Themen. Auch in den sozialen Plattformen und in den Medien sprechen wir fast jede Woche über die Risiken, die Herausforderungen, die Lösungen und die Hilfe, die sie bekommen können.

Wie ist das Feedback generell?
Bei unseren Veranstaltungen weinen viele Frauen, weil sie ihre Masken ablegen, sich verletzlich zeigen und erkennen, dass einige von ihnen wirklich unglücklich mit dem sind, was in ihrem Leben passiert. Frauen neigen dazu, sich mehr um andere zu kümmern und weniger um sich selbst. Das wird zu einem Phänomen, und auf der anderen Seite gibt es sehr erfolgreiche Frauen, die viel erreichen und ihr eigenes Business führen, aber auch sie vergessen oft, auf sich selbst zu achten. Wir müssen das Gleichgewicht finden und Männer mehr einbeziehen, weil auch sie viele wunderbare Dinge in einer Beziehung, insbesondere in ihrer Beziehung zu ihren Kindern, verpassen.

Und nehmen auch Männer an den Veranstaltungen teil?
Selten. In der Anfangsphase war das nicht unser Hauptfokus, da wir einen sehr sicheren Raum für Frauen schaffen wollten. Aber inzwischen organisieren wir auch Veranstaltungen, bei denen sowohl Frauen als auch Männer teilnehmen, weil wir zeigen möchten, dass es uns nicht nur darum geht, über Männer und Frauen zusammen zu sprechen. Wir setzen unsere Worte in die Tat um, bringen sie miteinander in Kontakt und versuchen, alles so zu mediieren, dass es langfristig funktioniert.
Zum Beispiel hatten wir im November letzten Jahres eine Gala, bei der wir Unternehmen, sowohl Männer als auch Frauen, ausgezeichnet haben, die etwas bewirkt haben mit Bezug auf Gleichstellung der Geschlechter.
Und viele Männer waren anwesend und wurden sehr emotional, weil sie manchmal erkennen, dass sie Dinge nicht aus dieser Perspektive gesehen haben oder nicht bemerkt haben, dass sie einige Vorurteile darüber haben, wer gut führen kann oder wer für einen sehr technischen oder körperlichen Job geeignet ist.
Einige von ihnen sind offen dafür, und ich glaube fest an den „Tribe-Effekt“. Wir müssen mit einer bereits bestehenden Gemeinschaft von 3000 Menschen beginnen, die auf irgendeine Weise in „#WeAreHalf“ involviert sind, und diese im Laufe der Zeit mit weiteren Menschen erweitern, die sich mit unserer Mission identifizieren oder sie verstehen.

Wie stehen Sie zu Unternehmen, die sich als inklusiv und unterstützend für Frauen präsentieren? Ist das wirklich authentisch?
Die Unternehmen, die an unserer Kampagne beteiligt sind, glauben wirklich an die Mission und wollen Frauen helfen, weil sie verstehen, dass es auch für sie und das Land wichtig ist. Aber es gibt auch Unternehmen, die Vorurteile haben und nicht einmal bereit sind, zuzuhören. Es ist keine feministischen Bewegung, sondern eine Bewegung, bei der wir uns mit Männern zusammentun wollen, um gemeinsam eine bessere Zukunft zu schaffen.

Was brauchen Sie für die Weiterentwicklung des Projekts?
Wir brauchen Geld, Trainer, Mentoren und mehr Beteiligung von Behörden, um etwas in großem Maßstab zu erreichen. Es gibt auch eine gewisse Verlangsamung des Interesses aufgrund der globalen Situation, insbesondere durch den Krieg in der Ukraine.

Wie schätzen Sie den Verlauf der Gleichstellungsperspektiven ein? Wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, bis wir eine spürbare Veränderung erleben?
Ich bin optimistisch, dass meine Kinder in einer Welt leben werden, in der Männer und Frauen gleich behandelt werden. Aber es wird wahrscheinlich 20 bis 30 Jahre dauern, bis sich tiefgreifende Veränderungen vollziehen.