WORT ZUM SONNTAG: Börsenmakler

Am 18. Juni 1815 standen sich auf der Ebene von Waterloo die Truppen Napoleons und das englische Heer unter Wellington gegenüber. Hier wurde die Entscheidungsschlacht über das künftige Schicksal Europas geschlagen. Zuvor hatte sich Napoleon blitzschnell auf die preußischen Truppen unter Blücher geworfen und sie in die Flucht geschlagen. General Grouchy verfolgte die sich zurückziehenden Preußen. Napoleon warf sich mit seiner übrigen Streitmacht auf Wellingtons Heer. Der Kampf wogte unentschieden hin und her. Bald wurde es klar: Sieger konnte nur derjenige werden, der zuerst Verstärkung erhielt. Napoleon hielt Ausschau nach Grouchy, Wellington nach Blücher.

Die Legende besagt, dass sich beim englischen Heer ein Börsenmakler befand. Ängstlich beobachtete dieser Geldmann die Vorgänge im Generalstab des englischen Heerführers. Das Erscheinen der Preußen auf dem Schlachtfeld entschied den Kampf. Napoleon und seine Truppen ergriffen die Flucht. Nun schlug die Stunde des Maklers. Er wartete nicht einmal das Ende des Kampfes ab, sondern galoppierte mit seinem Pferd zum Seehafen Ostende. Er wollte um jeden Preis vor der Siegesnachricht London erreichen. Doch auf dem Meer tobte gerade ein großer Sturm. Kein Seemann wagte die gottversuchende Überfahrt. Er bot die damals ungeheure Summe von 2000 Gulden als Überfahrgeld an. Schließlich ging ein Schiffer auf den Handel ein. Und sie hatten Glück. Nach wenigen Stunden langten sie wohlbehalten in Dover an. Der Makler eilte nach London, nicht etwa in eine Kirche, um für den Sieg der Nation und für seine eigene Rettung zu danken, sondern schnurstracks zur Börse. Dort kaufte er um einen Spottpreis sämtliche Wertpapiere, derer er habhaft werden konnte, auf. Nach einigen Stunden langte in London die Siegesnachricht von Waterloo an. Augenblicklich stieg der Preis aller Wertpapiere in eine ungeahnte Höhe. Aber da hatte der Makler seine Schäfchen bereits ins Trockene gebracht. In diesen paar Stunden wurde er zu einem der reichsten Männer Englands.

Wir staunen über den Coup dieses cleveren Mannes. Ihm ging es nicht um Patriotismus oder um den Stolz der Nation, ihm ging es nur um Geld. Dazu war ihm kein Einsatz zu hoch. Er gab eine große Summe für die Überfahrt aus, riskierte sogar Kopf und Kragen im Sturm. Doch es zahlte sich aus. Er gewann ein großes Vermögen.

Christus stellt uns diesen Betrüger als Vorbild hin. Aber nicht Unterschlagung und Urkundenfälschung sollen wir von ihm lernen, sondern etwas ganz anderes. Wir sollen mit dem gleichen Scharfsinn, mit dem gleichen Eifer, mit dem gleichen Unternehmungsgeist nach den himmlischen Gütern streben, wie die Kinder dieser Welt den irdischen Gütern nachjagen. Das kleinste himmlische Gut hat aber unschätzbar größeren Wert als das größte irdische Gut. Gläubige Christen sind davon überzeugt. Sind wir aber so kühn, so waghalsig wie die irdischen Glücksritter? Bei Weitem nicht. Wir gleichen eher lahmen Enten als kühnen Himmelsstürmern. Gebet, Sakramente, Gebote Gottes, gute christliche Werke stehen bei vielen so niedrig im Kurs wie die Wertpapiere an der Londoner Börse vor dem Sieg von Waterloo. Wenn wir im täglichen Wirtschaftsleben so nachlässig wären wie im religiösen, würden die meisten Bankrott machen. Dabei geht es uns wie dem Jagdhund. Der Jäger hetzt den Hund hinter den Hasen her. „Fass!“ ruft er ihm zu. Hat der Hund den Hasen erwischt, ruft der Jäger: „Lass!“, und steckt den Hasen in seinen Ranzen. So hetzen auch wir hinter Geld und Gut her. „Fass!“ eifert uns die Habsucht an. „Lass!“, ruft uns einmal der Tod zu.

Seien wir noch klüger als der britische Börsenmakler und die Kinder dieser Welt! Verschaffen wir uns Aktien von der Börse Gottes. Dazu benötigt man kein Geld, sondern gute, christliche Taten. Ihnen droht kein Börsenkrach und kein Kurssturz. Jede „Gute-Tat-Aktie“ hat ewige Gültigkeit. Greifen wir mit Cleverness zu. So erfüllen wir das Anliegen Christi: Die Kinder des Lichtes sind in himmlischen Dingen genauso klug wie die Kinder dieser Welt in irdischen Geschäftssachen!