Unser Heiland hat seine Lehren nicht aufgeschrieben, noch hat er seine Jünger angewiesen, dies zu tun. Mündliche Verkündigung und praktisches Vorleben waren und sind bis heute die Medien, durch die das Evangelium zu den Menschen gelangen soll. Wie fruchtlos Lektüre von Büchern sein kann, ersehen wir aus mehreren Szenen, wo Jesus um Rat gebeten wird: Was soll ich tun? Er fragt zurück: Was liest du in der Schrift? Und es stellt sich heraus, dass die Fragenden sehr wohl gelesen haben, was zu tun sei, aber sie tun es nicht. Es braucht dazu den mündlichen Anstoß: Tu das, so wirst du leben! Nicht zufällig war die Zeit der wenigen handgeschriebenen Bibeln auch die Zeit der explosivsten Ausbreitung des Christentums.
Im 2. Korintherbrief 3,1-9 nennt der Apostel Paulus die Gemeindeglieder, die er zum Glauben bekehrt hat, einen Brief Christi, geschrieben mit Gottes Geist auf die fleischernen Tafeln der Herzen, erkennbar und lesbar für alle Menschen. „Seht, wie sie einander lieben!“ So sollen die Heiden im römischen Reich auf die Christen aufmerksam gemacht haben und nicht mit der Aufforderung zum Lesen von Studien und Kommentaren. Mit Tinte auf Papier haben die Apostel und Evangelisten nur das aufgezeichnet, was der Geist ihnen eingab, zu schreiben, alles andere haben sie in den Gemeinden in physischer Anwesenheit mündlich geordnet. Darum legen bis heute die Verteidiger der Einen Kirche so großen Wert auf die Tradition.
Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und es soll laufen, lesen wir in den Briefen der Apostel. Der römische Grundsatz: „Verba volant, scripta manet“ (Das Wort verfliegt, das Geschriebene bleibt), wird im Christentum ausgehebelt und in sein Gegenteil gekehrt: Das gesprochene Wort fliegt, läuft , breitet sich aus, während das Geschriebene in den Regalen bleibt und verstaubt. Auch das andere lateinische Prinzip: „Quod non est in actos, non est in mundo“ (Was nicht aufgezeichnet wurde, gibt es nicht), hat in der Zeit der Gnade unter Christen keine Berechtigung. An ihm als der Mutter der Bürokratie halten eisern fest die Gesetzestreuen, die dem Evangelium den Zutritt in die Verwaltung streng verwehren.
Die Befürchtung, dass bei fehlender schriftlicher Aufzeichnung wichtige Sachen vergessen werden und verloren gehen könnten, ist bei geistlich eingestellten Menschen gleich Null, denn sie vergessen wichtige Sachen nicht, und das, was sie vergessen, war eben nicht mehr wichtig. Das ist eine – ungeschriebene – Regel bei kirchlichen Ordnungen von Menschen gemacht: sie werden beschlossen, aber nicht mehr aufgehoben, sondern geraten einfach in Vergessenheit. Darum ist die Aufforderung: „Zurück zu den Quellen!“ zum Scheitern verurteilt, weil man rückwärts gehend auf zu viel überholtes Regelwerk stößt. Die einzige verlässliche Quelle für den rechten Weg zu Gott ist das Wirken des heiligen Geistes in der Gegenwart.
„Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ So steht es in unserer Perikope. Aber die Frage stellt sich: Was ist Buchstabe und was ist Geist? Antwort: Lebendig machender Geist sind die Worte der Bibel, so wie wir sie vor uns haben und die Predigten und Reden, die Jesus Christus als den Herrn bekennen. Alles andere ist tötender Buchstabe. Alles, was an Christus vorbeigeht, seien es Bücher oder Vorträge, sind interessante Wüstenwanderungen, die man aber möglicherweise geistlich nicht überlebt. Im Reich des Buchstabens gibt es für den Menschen, solange er atmet, tausend Tode und tausend Wiedergeburten zu je neuen Irrgängen, bis er den Weg zum Vater findet oder vom guten Hirten geborgen wird. Amen.