Wort zum Sonntag: „Der allmächtige Gott will, dass wir überleben“

Predigt zum Russlanddeportiertengedenken im Temeswarer Dom

Wir gedenken unserer Deportierten, die nur darum nach Russland verschleppt wurden, weil sie Deutsche waren. Sie haben dort grausame Qualen erdulden müssen, viele sind auch gestorben. Das Leid können wir kaum in seiner Tiefe verstehen.

Dazu das Zeugnis eines Menschen, der zehn Jahre lang in Russland verschleppt war und im Jahre 2017 mit 100 Jahren gestorben ist. Es ist die Rede von dem  Benediktiner-Ordensmann P. Olofson Placid OSB. Er beschreibt wie der Glaube ihm und seinen Mitgefangenen in jenen grausamen Situationen geholfen hat. Sie haben mit den anderen Deportierten vier Regeln ausgearbeitet, die vielen von ihnen geholfen haben. Es ist möglich, dass sie auch uns heute helfen können. Ich zitiere ihn mit wenigen Auszügen aus einem Interview mit ihm, kurz vor seinem Tod:

Das Leid dürfen wir nicht allzu ernst nehmen. Das würde uns nur schwächer machen, wobei ich ja, um das Leid zu ertragen, all meine Energie brauche, sagte er. Somit haben wir nicht erlaubt, dass jemand beginnt, sich zu beklagen. Wenn jemand damit begonnen hat, dann haben wir ihn nach einem halben Satz unterbrochen und wir haben ihn gebeten, dass er über seinen Beruf reden möge, uns seine Fachkenntnisse mitteile. In diesen zehn Jahren habe ich so unzählige Berufe erlernt... Also, die erste Regel: Wir sollen das Leid nicht allzu ernst nehmen und uns nicht beklagen.

Pater Placidus beschreibt die zweite Regel: Wir sollen die kleinen Freuden des Lebens suchen, denn es gibt viel Freude, aber wir bemerken sie oft nicht. Es war nicht leicht unter jenen entsetzlichen Umständen zu erlernen, dass es sogar auch dann noch im Leben kleine Freuden gibt. Wir sollten diese entdecken und uns freuen, denn das ist die Kunst des Lebens, erzählte Pater Placidus. Damals fanden die olympischen Spiele von Helsinki (Sommer 1952) statt. Auch wir haben Olympia gespielt und wir haben es so gemacht: 6 oder 8 Personen unter uns machten Wettbewerb, wer während des Tages mehrere kleine Freuden findet. Einmal hatten wir einen Sieger, der 17 Freuden an einem Tag gefunden hatte. Und er schilderte am Ende: „Brüder, ich hatte keine Zeit zum Leiden, denn ich sollte die kleinen Freuden suchen und sie im Gedächtnis immer wieder wiederholen, damit ich sie am Abend auch aufzählen kann.“

Die dritte Regel, laut Pater Placidus: Wenn ich mich damit nicht abfinden will, dass ich vor dem Menschen mit der Pistole nur eine Ameise bin, dann muss ich meine ganzen Kräfte sammeln, um zu zeigen, zu beweisen, dass ich menschlicher, besser, edler bin als der Bewaffnete. Das mobilisierte unsere Energie, sagte Pater Placidus und erzählte auch ein Beispiel: Irgendwann erhielten wir ein Papier zum Unterschreiben, dass wir in sechs Tagen zurück in die Heimat gelassen werden. Das bedeutete, dass wir in diesen letzten sechs Tagen nicht mehr arbeiten mussten. Während wir aber noch mit dem Unterschreiben beschäftigt waren, kam der Fabrikdirektor böse schreiend zu uns, dass er keine Prämie mehr bekommen wird, weil wir den Plan in diesen Tagen nicht erfüllen werden. Jetzt bot sich uns die Gelegenheit an, zu zeigen, wer wir sind, unsere Menschlichkeit zu beweisen. Wir haben entschieden, dass eine Gruppe unter uns, obwohl wir nicht dazu verpflichtet waren, diese Arbeit in den nächsten sechs Tagen erfüllt, damit der Direktor seine Prämie bekommt. Es ist eine Kleinigkeit, aber das hat uns sehr viel geholfen in unserem Selbstbewusstsein: Dem Menschen, der uns zehn Jahre lang gedemütigt hatte, konnten wir nun zeigen, dass wir Menschen sind, dass wir anders sind als er.

Die vierte Regel: Wer sich in irgendetwas verankern kann, der vermag das Leid leichter zu ertragen. Wir, gläubige Menschen, hatten jemanden, an den wir uns klammern konnten: an den lieben Gott. Deswegen war es für uns leichter, alles zu ertragen. Wir haben noch hinzugefügt, dass Er ja allmächtig ist und Er will, dass wir das alles überleben. Das war etwas Großartiges!

Heute beten wir für unsere lieben Deportierten, die schon zum lieben Gott heimgegangen sind, aber auch für diejenigen, die noch am Leben sind, dass sowohl die einen, als auch die anderen die Nähe und Güte Gottes erfahren. Was wir von ihnen lernen können, das soll uns in unserem Leben Wegweiser sein. Amen.