WORT ZUM SONNTAG: Der geistige Föhn

Bei Föhnwetter im Frühjahr oder im Herbst ist die Luft so klar und durchsichtig, dass die Berge und Höhen, die in weiter Ferne unseren Gesichtskreis begrenzen, zum Greifen nahe erscheinen. Wir nehmen Höhenrücken, Bergspitzen und Täler wahr, die wir sonst nicht sehen können, weil Wolken, Nebel und der Dunstkreis der Städte sie verdecken. In unserem alltäglichen Leben verdecken die Wolken der Sorgen, der Nebel der Gleichgültigkeit und der Dunstkreis sinnlicher Genüsse in unserem Herzen den christlichen Glauben so sehr, dass wir seine Heilsbotschaft nicht so richtig wahrnehmen können. Verantwortungsvolle Priester erkannten, dass auch hier ein geistiger Föhn notwendig ist, der uns die Wahrheiten der Heilsbotschaft klar erkennen lässt. So ein Föhn entsteht bei Volksmissionen. Wie wichtig dieser geistige Föhn ist, sagt uns auch der Professor der Chirurgie Karl Ludwig Schleich: „Mit der christlichen Heilsbotschaft könnte man auch heute unsere gesamten Irrenhäuser reformieren und bis zu zwei Dritteln verhindern, dass sie die Schwelle der vergitterten Häuser überschreiten müssen.“

Ein Mann, der im 19. Jahrhundert in Südfrankreich den geistigen Föhn zum Wirken heraufbeschwor, war der hl. Eugen de Mazenod. Er wurde am 1. August 1782 zu Aix-en-Provence in Südfrankreich als Sohn des adeligen Charles Antoine de Mazenod geboren. Der Vater war Präsident des Rechnungshofes der Provence. Der Junge erlebte eine glückliche Kindheit, die aber nicht von langer Dauer war. Im Jahre 1789 brach in Frankreich die Revolution aus, die sich vor allem gegen den Adel und den Klerus richtete. Der Revolutionär Graf Mirabeau putschte in Aix den Pöbel gegen den Adel auf. Einige Adelige wurden vom Mob erhängt. Der Präsident floh bei Nacht und Nebel mit seiner Familie nach Nizza. So musste der kleine Eugen schon sehr früh das Flüchtlingsschicksal auf sich nehmen.

Der Vater wollte nun die Ausbildung seines Sohnes sicherstellen, deshalb brachte er ihn 1791 in das Adeligenkolleg zu Turin. Aber schon nach drei Jahren musste der Junge diese ausgezeichnete Bildungsstätte verlassen, denn das französische Revolutionsheer drang in Oberitalien ein. Auf einem Kahn konnte die Familie Mazenod den Po hinab noch nach Venedig entkommen. Hier weilte die Familie bis 1797, dann ging die Flucht weiter nach Neapel und von dort nach Palermo in Sizilien. In Palermo fand der 17-Jährige Flüchtling Aufnahme in der herzoglichen Familie Cannizzaro. Die hochgebildete und tiefreligiöse Herzogin wurde für Eugen wie eine zweite Mutter. Sie übte einen heilsamen Einfluss auf den heranwachsenden Jungmann aus. Nach elfjährigem Exil kehrte Eugen de Mazenod nach Frankreich zurück. In der Heimat entschied er sich für den Priesterberuf und trat 1808 in das berühmte Priesterseminar von Saint-Sulpice in Paris ein, das während der französischen Revolution geschlossen, nun aber wieder geöffnet worden war. Sein Lehrer Emery verstand es, dem 26-Jährigen die Wahrheiten der christlichen Heilsbotschaft tief ins Herz einzuprägen. Wie der Föhn Berge zum Greifen näherbringt, so brachte sein Lehrer die christlichen Wahrheiten wie ein Föhn seinem Zögling so nahe, dass er sie verinnerlichte. Zugleich bestärkte er ihn in der Liebe zur Gottesmutter. Im Dezember 1811 empfing er die Priesterweihe.

Im Oktober 1812 kehrte der junge Priester in seine Heimatstadt Aix-en-Provence zurück. Was er dort auf geistigem Gebiet fand, war erschreckend. Die Revolution und die kriegerische Zeit Napoleons hatten auf religiösem Gebiet verheerend gewirkt. Der Glaube war bei vielen erloschen. Eugen suchte nun bei Arbeitern, Dienstmädchen, Handwerkern und Jugendlichen, den Glauben neu zu beleben. Er erkannte: Soll in der Bevölkerung Südfrankreichs der christliche Glaube wieder belebt werden, müssen Volksmissionen veranstaltet werden. Allein konnte er diese Riesenaufgabe nicht bewältigen. Ihm gesellten sich gleichgesinnte Priester zu. Schon 1816 begannen sie Volksmissionen in den Städten und Dörfern zu organisieren. Bald zeigten sich die Früchte ihres geistigen Föhns. Das Volk fand zum Großteil wieder zum alten Glauben zurück. Eifrig verbreiteten sie unter dem Volk die Verehrung der Gottesmutter.

In Rom gelang es Eugen de Mazenod 1825, die päpstliche Approbation für seine Gemeinschaft zu erlangen. Von nun an hieß sie „Kongregation der Missionare Oblaten der makellosen Jungfrau Maria“. Freudig schrieb Mazenod an seine Mitbrüder: „Wir stehen unter dem Schutz der makellosen Jungfrau, die bei Gott alles vermag.“ Die Zahl seiner Ordensbrüder wuchs rasch an. So konnte er Missionare nach Kanada bis hinauf zum Polarkreis, in die USA, auf Ceylon und Natal in Südafrika senden. Hauptziel seines Wirkens waren Volksmissionen. Der Papst ernannte Mazenod zum Bischof. Er wurde Coadjutor seines Onkels, der Bischof von Marseille war. Nach dessen Tod wurde er 1837 Bischof von Marseille. Hier wirkte er unermüdlich, half dem Priestermangel ab, errichtete neue Pfarreien und suchte mit neuen Seelsorgsmethoden das religiöse Leben seines Bistums zu vertiefen. Er ließ auf der Felskuppe hoch über dem Hafen von Marseille die berühmte Wallfahrtskirche „Notre Dame de la Garde“ erbauen. Bischof Mazenod starb am 21. Mai 1861 während des „Salve Regina“-Gebetes. Papst Paul VI. sprach ihn selig, Papst Johannes Paul II. am 3. Dezember 1995 heilig. Möge der geistige Föhn auch uns Klarheit bringen.