Wort zum Sonntag: Retter oder Richter

Der dänische Bildhauer Thorwaldsen (1770-1844) schuf eine Christusstatue, ein wahres Meisterwerk der Bildhauerkunst. Diese Statue ist in der Frauenkirche zu Kopenhagen aufgestellt. Christus ist mit ausgebreiteten Händen und geneigtem Haupt dargestellt. Man wird unwillkürlich an sein Wort erinnert: „Kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!“

Ein Kunstgelehrter besuchte eines Tages die Frauenkirche zu Kopenhagen, um die Christusstatue Thorwaldsens zu betrachten. Er stand lange davor, blieb aber von dem Bild ganz unbewegt. Seinem Begleiter gegenüber äußerte er: „Ich weiß nicht, was an dieser Statue so Besonderes sein soll. Auf mich macht sie keinen großen Eindruck.“ Da sagte sein Begleiter: „Die Schuld liegt an Ihnen. Sie müssen niederknien und so das Christusbild betrachten. Dann erst sieht Ihr Auge die Schönheit und Erhabenheit dieses Kunstwerkes.“
Ein wahres Wort, das für jeden Menschen gilt. Nicht nur in Bezug auf die Christusstatue, sondern vielmehr in Bezug auf Christus selbst. Menschen, die vor ihm „niederknien“, die im Geist der Demut und mit willigem Herzen sich ihm nahen, erkennen ihn als „den Weg, die Wahrheit und das Leben“. Sie machen ihn zum Fundament ihres Lebens. Auf dieses bauen sie ihr Leben mit allen Wünschen, Erwartungen und Hoffnungen. Noch keiner, der auf Christus gebaut hat, ist in seinem Leben und vor allem in seinem Sterben von ihm enttäuscht worden.

Es gibt allerdings auch Menschen, deren Knie und Nacken vor Christus steif bleiben. Deshalb sehen sie in ihm weder den Weg, noch die Wahrheit, noch das Leben. Christus ist für sie im besten Fall irgendein Menschenfreund oder Weltverbesserer, wie es schon manche andere vor ihm gegeben hat, wie den griechischen Philosoph Sokrates oder den römischen Stoiker Seneca. Sie betrachten seine göttliche Botschaft für sich persönlich nicht verpflichtend. Sie brauchen keinen überirdischen Lehrmeister. Wie soll auch ein „aufgeblähter“ Mensch durch das enge und niedere Tor der Demut zur Botschaft Christi gelangen? Es sind Bauleute, die den tragenden Eckstein verwerfen und ihr Leben auf den Sand des Eigendünkels bauen.

Bei anderen ist es noch schlimmer. Nicht nur, dass sie für Christus nichts übrig haben, sie sind geradezu mit einem fanatischen Hass gegen ihn erfüllt und trachten diesen auch in den Herzen anderer Menschen zu schüren. In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts erklärte das bolschewistische Regime in Moskau Christus zum Völkerfeind Nr.1. In der Stadt Rjasan wurde sogar ein Prozess gegen den „Bürger Jesus“ inszeniert. Vierzehnjährige Jungkommunisten wurden als Richter eingesetzt. Das Urteil lautete: Tod durch Erschießen! Die Begründung des Urteils: Zugehörigkeit zur Gesellschaft der „asozialen Individuen“, dazu flagrante Unverbesserlichkeit.

Für diese Art von Menschen gilt der Vergleich Christi im heutigen Evangelium. Die Pächter wollen den ganzen Ertrag der Ernte selber einheimsen. Dass dies rechtswidrig ist, kümmert sie nicht. Wer es ihnen streitig machen will, wird geprügelt, gesteinigt, getötet. So ergeht es allen Boten des Weinbergbesitzers und so ergeht es sogar seinem Sohn. Er wird ermordet. Wird ein solches Handeln am Ende gut ausgehen? Darüber zerbrechen sie sich nicht den Kopf. Solche Menschen leben nur für das Heute. Doch der Verantwortung können sie nie und nimmer entrinnen. Der Weinbergbesitzer wird selber kommen und Gericht halten als Rechtssprecher über die Rechtsbrecher. Treffend heißt es in dem Werk „Dreizehnlinden“: „Hinkt sie auch, es kommt die Rache, schleicht sie auch, es naht die Sühne; Menschentrotz der Turm zu Babel ward zur mahnenden Ruine“.

Ein Tourist fand einmal einen Mann in höchster Bergnot. Er war abgestürzt und lag mit gebrochenen Gliedern in einer Schlucht. Schnell holte der Tourist Hilfe herbei und der Abgestürzte konnte gerettet werden. Es vergingen einige Jahre, der Mann hatte sich längst erholt und war gesund. Wegen eines Gesetzesbruches wurde er vor das Gericht gestellt. Der Angeklagte erkannte in seinem Richter seinen ehemaligen Retter aus höchster Lebensgefahr. Voll freudiger Hoffnung wandte er sich an den Richter: „Kennen Sie mich noch? Seinerzeit verdankte ich Ihnen mein Leben. Sie werden mir gewiss auch heute Ihre Hilfe gewähren.“ Aber vom Richterstuhl kam die ernste Antwort: „Das kann ich nicht: Damals war ich Ihr Retter, heute bin ich Ihr Richter.“

Genau dasselbe ist Christus für uns. Solange wir leben, streckt er uns seine helfende Hand entgegen, dass wir auf dem Lebensweg nicht straucheln. Sind wir aber trotzdem gestürzt, so reicht er uns seine rettende Hand. Es liegt einzig und allein an uns selbst, diese helfende Hand zu ergreifen und sie nie mehr loszulassen. Solange wir atmen und leben, steht Christus uns als Retter zur Seite. Ist die Lebenszeit um, ist er nur unser Richter. Deshalb wollen wir kluge Bauleute unseres Lebens sein. Wir bauen unser Leben auf den Eckstein, der Christus heißt. So brauchen wir am Lebensende nicht den Richter zu fürchten. Er ist ja unser Retter.