Zugfahrten früher und heute

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Ach, wie schön die Zugreisen meiner Kindheit doch waren! In den Ferien fuhren meine Mutter und ich mit dem Zug aus meiner Heimatstadt Reschitza nach Temeswar, zu meinen Großeltern. Die zwei Städte lagen einhundert Kilometer voneinander entfernt, und die Fahrt dauerte daher nicht lange, nur so um die vier, fünf Stunden. Aber nur dann, wenn der Zug nicht liegen blieb und man darin übernachten musste. Trotz der langen Fahrt kam nie Langeweile auf. Ich bewunderte immerfort die dahinziehende Landschaft oder vertrieb mir die Zeit durch hochinteressante Kurzlektüren.

In den vorbeiziehenden Kleinstädten und Dörfern waren an vielen Mauern und Lagerhallen riesige Inschriften mit roten Lettern angebracht, die ich nach dem Erlernen des Alphabets stolz entzifferte: Es le-be der glor-reiche So-zia-lis-mus! Es le-be der Kampf ge-gen den Ka-pi-ta-lis-mus! Und unter jedem Zugfenster gab es ein kleines Metallschild, auf dem ein knapper Satz stand: Nicht aus dem Fen-ster spu-cken!

Dies war ein höchst merkwürdiges Verbot, ich las es meiner Mutter laut vor und wusste nichts damit anzufangen. Aber die neben mir sitzenden Pendler schon: Der eine oder andere stand gelegentlich auf,  ließ das Fenster herunter, und beförderte seinen Speichel ins Freie. „Dieser Rüpel!”, murmelte dann jedes Mal meine Mutter und schüttelte mit dem Kopf, denn sie sah es offensichtlich als krassen Zivilisationsbruch. Aber nun ja, vielleicht spuckten diese Männer lediglich aus Protest, und zwar auf die Anordnungen des sozialistischen Staates, dem man sich immer zu fügen hatte. Der Widerstand gegen die Diktatur konnte manchmal ganz sonderbare Formen annehmen.
Eine weitere hoch interessante Zuglektüre bot mir der unter jedem Zugfenster stehende Satz: Nu vă aplecaţi în afară! Das heißt: Nicht hinauslehnen! Dieser deutsche Satz stand unter dem rumänischen, und danach folgten drei weitere Übersetzungen: Zuerst ins  Französische, Ne pas se pencher au dehors!, danach ins Englische, It is dangerous to lean out! und schließlich ins Italienische.

Ich fand all diese Aufforderungen faszinierend in ihrer semantischen Undurchschaubarkeit, doch am tollsten fand ich die italienische Anweisung. Denn beim lauten Aussprechen klang sie so wohltuend in meinen Ohren, wie ein kleines Gedicht, wie ein Haiku der Zugfahrt sozusagen: E pericoloso sporgersi! Ich möchte mich jetzt nicht allzu sehr aus dem Fenster lehnen, aber, wie Sie sehen, war ich schon mit sieben Jahren ein wahrer Poet.

Nun frage ich mich, ob diese mehrsprachigen Schilder über die Dichtkunst hinaus auch einem pragmatischen Zwecke dienten, denn in den Zügen meiner Kindheit gab es nie einen Ausländer. Ob der eine oder andere Zug womöglich ins Ausland fuhr? Wohl eher nicht, und wenn ja, dann nur ohne Passagiere, denn wer durfte damals schon aus Rumänien ausreisen!

Reiseverbot hin oder her, es war schön mit der Bahn zu fahren! Der von einer Dampflokomotive gezogene Zug kroch bisweilen derart entspannt dahin, dass man ihn zu Fuß hätte überholen können, ganz locker. Und wenn er etwas schneller fuhr, wackelten die  Waggons auf den betagten Schienen wie ein durchgeknalltes Schaukelpferd, während die Räder quietschten, pfiffen und ratterten, und meine Mutter inbrünnstig betete, für eine heile Ankunft.

Ich aber winkte den mageren Kühen auf der Weide frohgemut zu, und den neben den Gleisen wachsenden Pflaumenbäumen, aus deren Früchten man Ţuică brannte, den hochprozentigen Pflaumenschnaps, den man überall trank, also auch im Zugabteil. Während der Zugfahrt ließen die Pendler eine Flasche Ţuică gemütlich herumkreisen und nahmen der Reihe nach einen tiefen Schluck daraus, bis sie ganz leer war. Und wenn sie dann in ihren Dörfern ankamen, torkelten sie so fröhlich und ausgelassen herum wie die Matrosen bei stürmischer See. Ach ja, damals war noch richtig etwas los in den Zügen!

Und heute? Ich rase mit dem ICE von Düsseldorf nach Frankfurt,  und statt Ţuică wird überall Kaffee getrunken. Das Fenster lässt sich nicht öffnen, wegen der Klimaanlage, und links neben dem Fenster thronen zwei wortlose Schilder: Auf dem ersten sind ein paar durchgestrichene Füße auf einer Bank zu sehen, auf dem zweiten ein durchgestrichenes Handy.

Und was machen die zwei pubertierenden Jungs neben mir? Sie haben ihre Füße auf die gegenüberliegenden Sitze gelegt und brüllen wie am Spieß in ihre iPhones. Schon seit zehn Minuten geht das so, es ist nicht auszuhalten. Als meine Frau anruft, schaffe ich es nur mit Mühe und Not, mich mit ihr zu unterhalten. Um die beiden zu übertönen, muss ich regelrecht gegen sie anschreien, mindestens zwanzig Minuten lang. O tempora, o mores! Ich setze meine Headphones auf, schalte die MP3 mit Jimi Hendrix ein und drehe voll auf, um wenigstens akustisch in die guten alten Zeiten einzutauchen. Dann lege ich meine Beine auf den Sitz gegenüber und relaxe.