Zwanzig Kilometer bis zum Ende der Welt

Sfiștofca: Einst Rückzugsort für religiöse verfolgte Russen

Viele der Häuser in Sfiștofca, die einst aus Lehm und Schilfrohr errichtet wurden, sind aufgrund der fehlenden Pflege bereits in sich zusammengefallen. Doch auch in dieser abgeschiedenen Region gibt es besten Mobilfunkempfang.

Typisch für die Häuser der russisch-orthodoxen Altgläubigen sind die Holzverkleidungen an den Reetdächern.

Über Sfiștofca thront die Kirche der Lipowaner. Sie ist das am besten erhaltene Gebäude im Ort. | Fotos: der Verfasser

Ob die orangenen Plastikmülleimer an den Zäunen jemals jemand leert?

An einem wolkenlosen Spätsommertag im vergangenen September mache ich mich in Sulina zu Fuß auf den Weg. Etwa zwanzig Kilometer liegen vor mir, mein Ziel ist Sfiștofca. Die aussterbenden rumänischen Dörfer strahlen eine gewisse Faszination auf mich aus, und in diesem einst stattlichen lipowanischen Ort sollen heute nur noch wenige Menschen leben.

Nach knapp zwei Stunden hält ein Auto – ungewöhnlich für eine Gegend, in der Boote die bewährten Fortbewegungsmittel sind. Ich nehme das Angebot der Mitfahrt dankend an, spart mir die knapp halbstündige Fahrt doch einen beträchtlichen Fußmarsch. Der Mann aus Letea kam mir schon einige Minuten zuvor entgegen, und auch den Grund für seine Fahrt hatte ich schon gesehen: Zwei Nachbarn waren mit ihrem Wagen von der Straße abgekommen und im Graben gelandet. Ursache des Unfalls war das Smartphone des Fahrers, welches mehr Aufmerksamkeit erhalten hatte als die fast schnurgerade Schotterpiste zwischen Sulina und Cardon.

Kurz vor C. A. Rosetti – dem Hauptort der gleichnamigen Gemeinde – hat sich die Landschaft verändert: Ich befinde mich nun an den südlichen Ausläufern der Letea-Sandbank (Grindul Letea), die den am nördlichsten gelegenen subtropischen Wald in Europa (Pădurea Letea) beherbergt. Die Kanäle der Donau scheinen weit entfernt. Um mich herum sind einige Kühe auf der Suche nach Gras, doch viel Grün gibt es hier nicht mehr. Der Boden ist vom langen Sommer ausgebrannt, aber auch die sich immer weiter ausbreitende Sandbank macht Landwirtschaft und Viehhaltung in der Gemeinde zunehmend unmöglich, erfahre ich später.

Doch trotz der ungünstigen Lebensbedingungen in diesem Gebiet am Rande des europäischen, russischen und osmanischen Einflussbereiches haben sich im Laufe der Geschichte immer wieder Menschen im Delta angesiedelt. Zunächst drangen altgläubige orthodoxe Christen (Lipowaner) aus dem Russischen Reich in die unzugänglichen Gebiete vor. Nach den Reformen des Patriarchen Nikon waren sie ab 1652 in ihrer Heimat religiöser Verfolgung ausgesetzt. Neben Sfiștofca gründeten sie auch die Dörfer Periprava, Mila 23 und Jurilovca. Letzterer Ort ist heute das Zentrum der Lipowaner in Rumänien und zugleich eines der schönsten Dörfer des Landes.

Etwa ein Jahrhundert nach den altgläubigen orthodoxen Christen flüchteten Saporoger Kosaken ebenfalls aus dem Russischen Reich – und der heutigen Ukraine – in das Delta. Zuvor hatte Zarin Katharina II. ihre Militärorganisation zerschlagen und die Führung der Kosaken nach Sibirien deportiert. Mit Zustimmung der Hohen Pforte ließen sich rund 8000 Saporoger Kosaken an verschiedenen Orten im inneren und äußeren Delta nieder. In Dunavățul de Sus führten sie ab 1813 sogar ein militärisches Lager, welches allerdings später durch die osmanischen Behörden aufgelöst wurde. Zu ihren Gründungen zählt Letea, sie siedelten allerdings auch in den Gemeinden der Lipowaner und wurden als Abgrenzung zu diesen später Chacholen und schließlich Ukrainer genannt. Weiteren Zuzug erhielten die Siedlungen der Lipowaner und Chacholen noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert durch ukrainische Bauern, die der Sklaverei und der Rekrutierung in die zaristische Armee entgehen wollten.

C.A. Rosetti – als Satu Nou gegründet – entstand schließlich am Beginn des 19. Jahrhunderts durch die dauerhafte Besiedlung durch rumänische Schafhirten aus Bessarabien, die hier schon in den Jahrhunderten zuvor mit ihren Herden überwinterten. Um 1900 haben über 400 Menschen in knapp 200 Häusern in Satu Nou gelebt, doch in Abwesenheit ihrer einstigen Besitzer, die auf der Suche nach Arbeit schon unter dem kommunistischen Regime nach Sulina, Tulcea oder Konstanza verzogen sind, verfallen sie bis zum Einsturz. Der Gemeindesitz zählte 2011 offiziell 223 Einwohner und eine Schule für die wenigen Kinder aus den vier Ortschaften, die nach der achten Klasse ins Internat nach Sulina ziehen müssen.

Eine bedrückende Stille liegt über dem Ort. Erst vor dem Konsum treffe ich drei ältere Männer. Wir kommen ins Gespräch, denn als Auswärtiger ist man hier leicht zu erkennen. Der gewöhnliche Tagesausflug von Touristen führt von Sulina mit dem Boot nach Letea, wo es eine kleine touristische Infrastruktur gibt, und dann weiter zum Letea-Wald. Einer der Männer lädt mich zum Mittagessen ein. Auf ihn gewartet hat niemand, seine Frau ist bereits verstorben und die Tochter studiert in Konstanza. Er erzählt von einem kargen Leben im Delta und deutet auf den Sand in seinem Garten. Gemüse anzubauen sei schon lange nicht mehr möglich. Stattdessen laufen einige Hühner über den trockenen Boden, hinter einem Zaun stehen zwei Schweine. Auch die Kanäle der Donau liegen mindestens fünf Kilometer entfernt, was den Fischfang erschwert.

Der Weg aus C.A. Rosetti führt vorbei an einem Friedhof der Lipowaner. Man erkennt ihn schon aus der Ferne an den markanten russisch-orthodoxen Kreuzen. Die meisten Gräber sind nur durch ein frei stehendes Kreuz markiert. Die Namen der Toten sowie ihre Geburts- und Sterbedaten sind handschriftlich auf dem Holz oder Metall vermerkt. Die Schotterstraße, die mich aus Süden kommend in den Ort führte, ist zu einer Sandpiste geworden, die mich nach Osten aus ihm herausführt. Sie schlängelt sich durch einen kleinen Wald und eröffnet mir an ihrem Ende eine noch kargere Landschaft. Sfi{tofca muss das berüchtigte Ende der Welt sein.

Am Rande des Dorfes sind viele der Lehmhäuser bereits eingestürzt. Die verlassenen Holzhäuser um die 1887 errichtete alt-orthodoxe Kirche sind in einem etwas besseren Zustand. Doch auch ihre Reetdächer müssten spätestens alle zwanzig Jahre gewechselt werden, und viel Zeit bleibt dafür nicht mehr. Die einst blauen oder grünen Fassaden sind bereits verblichen. Durch die Straßen zieht sich der Knöterich. Es scheint, als hätten sich die Bewohner eines Morgens spontan entschieden, zu gehen. Allein die Kirche, eine erst 2010 gebaute Winterkirche sowie ein nahestehendes Gebäude befinden sich in gutem Zustand. Gleichwohl ist auch der junge Diakon, der die Gottesdienste in den letzten Jahren gehalten hatte, 2019 nach Tulcea gezogen.

Seine Blütezeit hatte Sfiștofca um die Zeit vom Ende der osmanischen und der beginnenden rumänischen Herrschaft über die Dobrudscha. Damals sollen knapp 1200 Menschen hier gelebt haben. Doch schon ab der Wende zum 20. Jahrhundert haben die ersten Lipowaner den Ort auf der Suche nach Arbeit wieder verlassen, weitere Auswanderungswellen gab es nach dem Zweiten Weltkrieg sowie der politischen Wende 1989/90. Als abgelegener Rückzugsort am Rande des Russischen Reiches bot Sfiștofca den orthodoxen Altgläubigen Schutz vor religiöser Verfolgung, doch die wirtschaftlichen Voraussetzungen waren nie beson-ders gut. Mehr als Subsistenzlandwirtschaft und Fischfang waren hier nie möglich. Die Verschmutzung der Donau sowie die Überfischung im Delta in den vergangenen Jahrzehnten haben zudem die Erträge der Fischer stark reduziert.

Vor wenigen Jahren soll es noch zwei kleine Geschäfte gegeben haben, doch auch diese sind mittlerweile geschlossen. Ich zähle keine zehn bewohnten Häuser mehr. Der Ort hinterlässt auf mich einen unwirklichen Eindruck. Bis heute irritieren mich die modernen orangenen Plastikmüllkörbe an den Holzzäunen der Dorfstraße. Sie erscheinen von besonderem Hohn, wenn man die desolate Müllentsorgung in Sulina mit eigenen Augen gesehen hat. Die Bewohner von Letea bieten unterdessen Rundfahrten durch den fast menschenleeren Ort an.