Trotzdem es Nebensache sein sollte, ob die kalte Jahreszeit der Geburt Christi eine behagliche Schneedecke auflegt oder nicht: Nördlich der Alpen möchte man pünktlich zu Weihnachten die kristallenen Niederschläge ungern missen. Im Süden spezifisch dagegen drängt der Ruf, draußen mit anderen zu feiern, statt die Abende drinnen zu verbringen und ihre dunkle Nässe zu meiden.
Aber auch der Norden macht süchtig auf die erlösende Sonne des Frühlings. Ausharrende wie Hermann Hesse meinten und meinen es bitter ernst mit ihrer Kritik am unwirtlichen Ändern von einem Jahr zum anderen. „Der Schnee wechselt mit Föhn und das Eis mit Schmutz, die Feldwege sind ungangbar, man ist von der nächsten Nachbarschaft abgeschnitten…“, hielt der Literaturnobelpreisträger von 1946 vier Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in seinem Tagebuch fest.
Wirklich Grund zum Klagen jedoch konnte Hermann Hesse kaum haben. Akribisch planen musste er eigentlich nichts anderes als das Ansparen von ausreichend Kleingeld für seine Reisen nach Italien, das ihn vor allem frühjahrs begeisterte. Landstriche, „wo kein Wein mehr wächst“, waren ihm allenfalls „um der Literatur willen“ eine Visite wert. Hesse übrigens hatte das Glück, seinen Heißhunger auf Kultur-Citybreaks in einer herrlich sprühenden Epoche stillen zu können. Europas Eliten hatten sich das Reisen auf langen Strecken zwar schon angewöhnt, aber weder die Sogwirkung noch den nicht mehr umkehrbaren Triumphzug des Massentourismus mitansehen müssen.
Der nämlich ist, genauso wie das bürgerlich gediegene Feiern von Weihnachten, auch eine obligate Folgeerscheinung der westlichen Gesellschaftsordnung. Schlicht umsonst, der Wunsch, im Erkunden von Venedig all seinen nicht enden wollenden Besucherströmen zu entgehen. Mit etwas Geduld aber und der Einsicht, dass es nie und nimmer klappt, diese Weltstadt inklusive ihrer Lagune in wenigen Tagen zu erlaufen und mit dem Vaporetto zu erfahren, birgt auch Kurzurlaub die Chance zur Faszination im Langzeitgedächtnis ab Ende der Reise. Gedränge lässt sich vielleicht vergessen, Venedig dafür auf keinen Fall.
Obschon es anstrengend ist. So anstrengend, dass seit Beginn des dritten Jahrtausends ein Drittel der Venezianer Venedig verlassen haben. Dem Ansturm von Touristen zu begegnen, die sich zwecks Vergnügung in „Veniceland“ wähnen und wissen wollen, „wann Venedig schließt?“, wie ein Hotelbesitzer im Dokumentar-Film „I love Venice“ auf Netflix quittiert, ist weder für Einheimische noch kulturbewusste Gäste leicht. Erst seit August 2021 dürfen Schaden anrichtende Kreuzfahrtdampfer Venedigs Hafen nicht mehr über den Canale di San Marco und den Canale della Giudecca anlaufen und wieder verlassen. Die Restriktion mit eigenem Leib erfochten haben eingefleischte Venezianer. Zum Protest bezogen sie Stellung am Kai der Piazzetta San Marco, verneigten sich vor dem Palazzo Ducale und reckten den Kreuzfahrt-Tagesgästen ihre entblößten Pobacken entgegen.
Vor dem, was die Riesenschiff-Schickeria an einer derart schnöden Art des Reisens heute lieben zu müssen glaubt, hatten schon Leute vom Schlag Hermann Hesses gewarnt. Stefan Zweig legte er „ans Herz, in Italien keine Gewaltreise zu machen, sondern lediglich zu bummeln, wenn Sie dabei auch nur eine einzige Stadt kennenlernen sollten.“ Weniger ist mehr und das auf der Karte täuschend kleine Venedig sehr groß. Ohne den Kunstraubzug seiner Kreuzfahrer im Konstantinopel des Jahres 1204 stünde es beileibe nicht so da, wie es dasteht. Staunen sensationsgieriger Kreuzfahrtpassagiere im 21. Jahrhundert ist eine Sache, der orientalische Einfluss auf Venedig aber nochmal eine andere Hausnummer. Die freie Seerepublik und ihre Bauherren hielten sich nicht an die 1054 von Rom beschlossene Kirchenspaltung.
Liberal statt obrigkeitshörig
Ein griechischer Architekt hätte den Auftrag, die schönste Basilica aller Zeiten zu errichten, vom Papst kaum je erhalten. In Venedig dafür wusste Doge Domenico Contarini, dass die Basilica di San Marco nur byzantinisch aussehen darf. Der allererste Stein wurde 1063 gelegt und 1094 ihre Weihe zelebriert – katholisch in einem Christentempel, der orthodoxer nicht hätte gebaut und von innen bemalt werden können. Die orthodoxe Heilige Liturgie und die katholische Messe wären, so heißt es, jede für sich überall auf der Welt identisch. Venedig und seinen Markusdom dagegen gibt es bloß einmal.
„Ein Chor und eine Orgelmusik so auserwählt, rein, ergreifend und vollkommen, wie ich noch nichts gehört“, fiel es Anfang Mai 1901 dem keine 24 Jahre alten Hermann Hesse in der „dämmerigen, von Gold und Reichtum strotzenden Prachtkirche“ auf. Häufig Gondel gefahren ist er außerdem, was Nachwuchs-Autoren 120 Jahre nach Hesses Erstaufenthalt in Venedig schnell der Zahlungsunfähigkeit gefährlich nahe brächte. Weit weg war die Lagunenstadt damals von den 80 Euro, die ein Gondoliere heute für eine halbe Stunde Fahrt pro Barke in Rechnung stellt. „Das seltsame Fahrzeug, aus balladesken Zeiten ganz unverändert überkommen“, wie Thomas Mann die venezianische Gondel beschreibt, es machte noch nicht schlucken.
Obwohl „eigentümlich schwarz, wie sonst unter allen Dingen nur Särge es sind“. Gerade in Venedig bestimmt nicht der Schwächste das Niveau, sondern der Stärkste den Preis. Wie anders sonst sind die kitschig goldfarbenen Verzierungen zu erklären, die finanziell Potente in die Gondeln locken? Geld regiert mehr denn je die Welt, hält sie gefangen. Sitzt es nicht locker in der Tasche, muss es beim Zugucken von der Seufzerbrücke aus bleiben, die etliche Gondeln unterqueren. Besser also, das Teure teuer sein zu lassen, statt wie vor Zeiten als Häftling den Gang in den Kerker vor sich zu haben und rasch noch ein letztes Mal frische Luft atmen zu können. Auf dem „Ponte dei Sospiri“ wurde früher todernst geseufzt, doch das ist vorbei.
Ungebrochen auf dem Spiel steht hingegen nach wie vor das gute, das mediterran schöne Leben. Reisenarr Hermann Hesse hatte an der Wand seines Schlafzimmers eine große Karte hängen, die ihm winters „das Schielen nach Sizilien hinab“ in die Augen trieb und auch sein „Verirren gegen Korfu und Griechenland hin“ förderte. Korfu, die venezianische Insel von 1386 bis 1797. Als hellenisches Staatsgebiet zählt sie seit 1864, und zuvor 411 Jahre lang Partnerin Venedigs gewesen zu sein, ist ihren Einwohnern noch heute heilig. Venedigs Bevölkerung schwindet, doch bei den Korfioten passiert das Gegenteil.
An ihren verführerischen Mitbringsel-Läden in der Inselhauptstadt Kerkyra führt kein Weg vorbei. Pfeffermühlen sind aus mindestens zehn Jahre lang gelagertem Holz eigener Olivenbäume gedrechselt, das stählern rostfreie Mahlwerk darin kommt natürlich aus Italien, und Karnevalsumzüge nach venezianischem Vorbild, sich in Schale zu werfen, haben Korfus Hauptstädter längst auch schon zu feiern entdeckt.
Aber ohne deswegen jemals ihren Brauch über Bord geworfen zu haben, am Dreikönigstag in bester orthodoxer Art und Weise nach einem Kreuz zu tauchen, das frisch aus dem Ufer des Mittelmeeres geborgen sein will. Denn 1716 wurde das Schicksal von Korfu, der Großmacht Venedig und des nördlichen Europa auf dem Wasser entschieden.
Nichts ohne Gott und Musik
Ein Seesturm am 20. August brachte etliche Schiffe von türkischen Belagerern zum Kentern und vereitelte das allerletzte Aufbegehren der Osmanen, ihrem Imperium Stück für Stück den alten Kontinent einzugliedern. Den Widerstand der Korfioten zu Lande im Auftrag Venedigs organisierte gekonnt Graf Marschall Matthias Johann von der Schulenburg aus Sachsen-Anhalt. Sein Standbild wacht seit 300 Jahren am Eingang der Alten Festung von Kerkyra. Venedig besang den militärischen Sieg bereits November 1716 mit der Premiere des Oratoriums „Juditha triumphans devicta Holofernis barbarie “ von Antonio Vivaldi.
„Cambiéllo“, das älteste Viertel von Kerkyra, sieht Venedig wegen eng verwinkelter Gassen täuschend ähnlich. Mit dem Unterschied, dass die Treppen seiner Wohnhäuser so steil sind, dass man Koffer hier regelrecht hoch stemmen muss. Wurde damals abrupt gebaut, um zahlreichen Venezianern Residenzen auf diesem selten schönen Fleckchen Erde ermöglichen zu können? Ganz unwahrscheinlich ist das nicht. Auf Venedigs Campielli waren Wohnungen wohl teuer und meist Mangelware – ein triftiger Grund, sein Glück vielleicht im Cambiéllo auszuloten. Dreiseitig vom Mittelmeer umgeben ist es. Was will man mehr!
Anders als Venedig hat Korfu keinen byzantinischen Riesentempel anzubieten, aber das heißt gar nichts. Auch in Kerkyra finden sich etliche Campanile, Kirchen und gar die Ikone eines Befehlshabers aus dem katholischen Venedig unter orthodoxem Heiligenschein. Sie verstehen es eben, die Korfioten. Auf die Spitze treibt es ein Bild im Byzantinischen Museum an der Uferpromenade des Cambiéllo: die Taube, Christus und Gott in Dreieinigkeit. Der Allmächtige, der nicht abgebildet werden darf, auf Korfu im orthodoxen Hellas wird er es doch.
Dass 2000 korfiotische Juden 1944 in die Konzentrationslager von Auschwitz und Birkenau transportiert wurden, wo der Tod durch Vergasung auf sie wartete, hätte dagegen auf keinen Fall passieren dürfen. Nur 180 überlebten. „Never again for any nation“ wurde in eine Marmortafel gemeißelt, die seit November 2001 am Sockel des bronzenen Holocaust-Denkmals am Platz vor dem Neuen Fort, der Platía Néo Froúrio, haftet. Nie mehr wieder, ganz gleich für welche Nation! Von drei Synagogen für bis zu 5000 Juden unter Kerkyras Bürgern um 1890 wurde nur die im 17. Jahrhundert erbaute Scuola Greca nicht zerstört.
Pjtor Iljitsch Tschaikowskys „Festliche Ouvertüre“ war es, mit der Wahlamerikaner Benjamin Zander und das Boston Philharmonic Youth Orchestra (BPYO) abends am 19. Juni 2022 vor der Heilig-Georgs-Kirche der Alten Festung das für Korfu geplante Konzert ihrer Griechenland-Tournee eröffneten. Maestro Zander, drahtig wie ein Routinier in seinen besten Jahren und 1939 in England als Sohn jüdischer Emigranten aus Deutschland geboren, warb vor den Fanfarenstößen zum Auftakt für eine „piece from the true Russia“. Solist Zlatomir Fung, 1999 im US-amerikanischen Ithaca zur Welt gekommen, legte mit Tschaikowskys Variationen über ein Rokoko-Thema für Violoncello und Orchester nach und erntete strahlenden Stehapplaus.
Kein bisschen übertrieben auch die Werkeinführung von Benjamin Zander, seine Orchestermitglieder und er hätten für den wichtigen Gesangspart der Vierten Symphonie von Gustav Mahler in Sofia Fomina „the best soprano in the world“ engagiert. Der blinkende Leuchtturm der Alten Festung von Kerkyra tat sein Übriges zum Auftreten des BPYO im Ursprungsland der Demokratie, mit der, wie Zander einräumte, in den USA leider gehadert würde. „Die jungen Menschen hier werden den Abend an diesem Ort niemals vergessen, das können Sie mir glauben!“ Das kultige „Lied an den Mond“ aus Antonin Dvoraks Oper „Rusalka“ als Zugabe auf den betörenden Schluss der Vierten Mahlers gab Zander und Kerkyra Recht.
Zweihundert Opfer, tausend Rettungen
„Even I get lost in the Cambiéllo!“, raunt eine Einheimische von der 1840 gegründeten Philharmonischen Gesellschaft Korfus. Weshalb die Holocaust-Schergen im ältesten Ghetto der Welt die Fassung verloren, liegt klar auf der Hand. „Wege zu Fuß zu finden, ist in Venedig im Anfang fast unmöglich“, bestätigte Hermann Hesse, dessen Reisetagebuch-Herausgeber Volker Michels 1988 für den Insel-Verlag rezensierte, der gebürtige Schwarzwälder habe sich in Italien von den „Verkrampfungen des überzivilisierten Nordens“ erholen wollen.
In den Gassen des Ghetto Vecchio, rings um den Campo del Ghetto Nuovo und im Ghetto Nuovissimo verbissen die Wohnungen von Venedigs 1200 Juden aufstöbern zu wollen, war für Häscher Hitlers und Mussolinis fast schmählichem Versagen geweiht. Zum Einen war es den Faschisten nicht recht, sich zu verlaufen, und noch dazu entpuppten sich Einwohner der Region Veneto als Partisanen und „bonaccioni“, bei denen jüdische Mitbürger Schutz vor den Razzien fanden.
Kleines Detail am Rande: Nicht nur die im Terrain eher nutzlosen Straßenkarten von Venedig, sondern auch die „alten“ und „neuen“ Beinamen des Ghettos sind irreführend. Mit den Gründungsdaten verhält es sich umgekehrt als durch die Benennungen zu vermuten. „Nuovo“ war das Ghetto von Venedig 1516. Eine Venezianerin, die Gäste in zwei von fünf Synagogen mitnimmt – wegen Renovation sind aktuell drei geschlossen – erklärt, das „Ghetto“ mit trockener Aussprache des Anfangsbuchstabens wäre deutschen Ursprungs. Unter Einheimischen wäre zuvor vom „Getto“ die Rede gewesen. Was er nicht alles nachhaltig geprägt hat, dieser „überzivilisierte Norden“!
Das Feiern von Weihnachten – „man mag es das deutscheste aller Feste nennen, und wohl kein Volk begeht es mit solcher Innigkeit wie ihr“– und leider auch die Verbrechen des Holocaust, weil „es kein Deutschtum gab, bevor das Licht im Osten erschien auch für euch.“ Über den Äther der BBC sprach Thomas Mann Dezember 1940 Tacheles zu seinen Landsleuten. Den Orient bitte ja nicht kleinreden! Er ist auch in Venedig zuhause. Wo alle Welt hin möchte.
Eine Spritztour gefällig? Aperol, Campari, Athos, Penelope und Aphrodite heißen die Hauskatzen der Buchhandlung „Scalamata“ für Groß und Klein von Illustratorin Michal Meron und Texter Alon Baker. Als Namensvetter des Eroberers, der 1797 die Ghetto-Tore verbrennen ließ, zählt auch Napoleon zu ihren Vierbeinern. Heute ist Venedig Heimat von etwa 450 Juden, wobei im Ghetto selbst 20 wohnen. Zwei Damen unter ihnen tun auf Barken das Gleiche wie hunderte Gondolieri.
Couragierte„bonaccioni“ im Zweiten Weltkrieg hätten Korfu sicher ebenso gutgetan. Engländer Lawrence Durrell musste 1941 wegen der Terrain hinzugewinnenden Wehrmacht Hitlers seine Residenz auf der zweitgrößten der Ionischen Inseln aufgeben. Vor der Alten Festung in Kerkyra aber kann man ihm nachträglich an seine feine Skulptur-Nase fassen. Hellas wäre, so der 1990 verstorbene Literat, „das Land, das dir die Entdeckung deiner selbst bietet…“. Nebenan im Alten Palast und Museum der Asiatischen Kunst tagte Juni 1994 der EU-Rat.
Achtung ist gefragt
Birgt es ausschließlich glückliche Überraschungen, sich selbst zu entdecken? Den dritten Satz seiner Vierten Symphonie jedenfalls wollte Gustav Mahler „ruhevoll“ gespielt wissen. Womit Benjamin Zander und das Boston Philharmonic Youth Orchestra unter Korfus freiem Himmel ihre Mühe hatten, weil am Flughafen von Kerkyra noch spät abends Hochbetrieb herrschte. Für das leise Einsteigen in den feinen Klang musste ein Turbinenlärm-Zeitfenster abgewartet werden. Gar nicht so einfach also, was Mahler vorschwebte: „Wir genießen die himmlischen Freuden, / D´rum tun wir das Irdische meiden.“
„Kein weltlich Getümmel / Hört man nicht im Himmel! / Lebt alles in sanftester Ruh.“ Ein ruhiges Venedig ist wohl nur frühmorgens oder spät abends zu haben, und ein himmlisches auch nur bedingt. Irgendwann nehmen sogar Messen in der Basilica di San Marco ihr Ende. Jederzeit vorrätig aber ist Venedigs „weltliches Getümmel“. Massenabfertigung oder das berühmte „Adagietto“ aus Mahlers Fünfter Symphonie im Kinofilm „Death in Venice“ von Luchino Visconti – wofür steht Venedig? Dem „überzivilisierten Norden“ stünde es gut, sich dem maritimen Südosten wieder mit Tiefgang zu nähern.
1716 auf Korfu der Befreiungsschlag gegen die Türken, schön. Verständlich auch die Gewohnheit von Vaporetto-Kapitänen, Kleidung und Ausrüstung von Vaude und The North Face zu beanspruchen. Nicht zu vergessen die Geländevermessungs-Tachometer mit dem Logo von Leica. Wo Venedig sich mal die Welt erobert hatte, ist es über Rückwege von ihr eingenommen worden. Fehlt nur noch die Ambition seiner Bezwinger, es nicht beliebig zu überlaufen.