Sie ist weltweit einzigartig – die Schlange Glykon mit der Kälbernase, den Menschenhaaren und -ohren, den langen Wimpern und dem Löwenschwanz, im 2. Jh. aus einem einzigen, schneeweißen Marmorblock gehauen. Ein Zufallsfund, den das historisch überladene Erdreich Konstanzas 1962 gnädig freigab, zusammen mit einem Komplex von 24 griechischen Götterstatuen vom Feinsten, im 4. Jh. aus Angst vor der Zerstörung durch christliche Eiferer vergraben. Die göttliche Schlange, Fabeltier der griechischen Mythologie, stand Modell für den Stab des Asklepios, das Symbol der Mediziner. Ihr Ursprung liegt vermutlich in der römischen Provinz Makedonien, wo seit Jahrhunderten ein Schlangenkult betrieben wurde. Die Makedonier schrieben diesen Reptilien magische Kräfte zu, vor allem in Bezug auf Fruchtbarkeit, was sich in zahllosen Mythen niederschlug. Auch in der Legende von der Zeugung Alexanders des Großen: Seine Mutter, Königin Olympia, soll von keinem geringeren als Göttervater Zeus befruchtet worden sein, der ihr in Gestalt einer Schlange erschien.
Heute bewacht Glykon als wichtigstes Exponat die Schatzkammer des archäologischen Museums in Konstanza – das zweitgrößte des Landes nach dem Nationalen Geschichtsmuseum in Bukarest. 1977 wurde das beeindruckende Gebäude auf dem Ovidius-Platz Sitz des Museums, davor diente es bis 1921 als Rathaus. Die Sammlung von über 430.000 Exponaten reicht von den Steinzeit-Kulturen Gumelnitza und Hamangia – zu letzterer gehört das berühmte Ensemble „Der Denker und seine Frau“ - über die griechisch-römische und byzantinische Zeit und das Mittelalter bis in die Moderne.
Geflüster aus den Tiefen der Antike
An Glykons Seite wachen dort über die übrigen stummen Zeugen ihrer vergangenen Epochen: die Rachegöttin Nemesis, die vielarmige Hekate, die Große Göttermutter Kybele, die sanfte Mondgöttin Selene, die ägyptische Isis, sowie die Schutzgötter der Stadt, Fortuna und Pontos mit dem Füllhorn, aber auch der in der antiken Dobrudscha so beliebte Thrakische Reiter, ein Vorgänger des Heiligen Georg. Allein in der Schatzkammer könnte man Stunden verbringen.
Nicht nur im Archäologiemuseum wird einem verdeutlicht: Konstanza ertrinkt in Geschichte. Schicht um Schicht gibt das Erdreich immer wieder neue Zeitzeugen frei. Spuckt Scherben, Statuen, Knochen, Schmuck, manchmal ganze Gräber oder Mosaike nach oben, wie Buchstaben, Wörter und Satzfragmente, die darauf warten, zu einer sinnvollen Botschaft zusammengefügt zu werden. Doch vieles bleibt ein Rätsel: Man muss kein Experte sein, um fasziniert vor der rekonstruierten Silhouette eines Kindergewands aus einem Grab aus dem 4. Jh. v. Chr.(!) zu verharren. Das Gewebe ist längst vergangen, zurück blieben an ihrem originalen Platz die winzigen aufgenähten Schmuckstücke: vergoldete Terrakottafigürchen, Münzen, Gesichter, aparte Blümchen und Täubchen – und seltsame geflügelte Wesen, Engel oder vielmehr ihre vorchristlichen Prototypen, einige tragen sogar ein Kreuz! Mahnend verweist der Blick der Schlange auf die übrigen Stockwerke des Museums. Die Zeit drängt. Zu viel gibt es zu entdecken auf dieser Etappe der sechsten vom Departement für Interethnische Beziehungen an der rumänischen Regierung (DRI) organisierten Journalistenreise auf den Spuren der nationalen Minderheiten (2.-5.Juli), die uns auch nach Konstanza führte.
Geometrie der religiösen Toleranz
Der Ovidius-Platz im historischen Zentrum enfaltet sich unter den glühenden Blicken der Sonne. Sie hüllt architektonische Pracht und bröckelnde Fassaden gleichermaßen in gleißendes Licht. Vor uns erhebt sich das Minarett der König Carol I. Moschee. Straßenlokale locken mit kreativen Menüs auf handbeschriebenen Schiefertafeln. Der Duft von Meer, Salz und gebratenem Fisch – wird er nicht gleich die steinerne Statue des Dichters Ovid zum Leben erwecken? Unter dessen Augen flanieren Touristen, Einheimische gehen ihrem Tagewerk nach, Gläubige streben zu ihren Gotteshäusern.
Acht verschiedene Kultstätten bilden ein „spirituelles Oktagon“ um den Platz – die Geometrie der religiösen Toleranz. Zwei Moscheen: Carol I. und Hunkiar (siehe ADZ-Online 10. August: „Auf dem Teppich unter dem silbernen Halbmond“). Fünf Kirchen: Die armenische brannte 1940 nieder, so dass die Armenier gezwungen waren, die griechische Kirche „Metamorphosis“ zu besuchen, bis ihr neues Gotteshaus im Gebäude der ehemaligen armenischen Schule auf der Callatis-Straße geweiht war. Zwei orthodoxe Kirchen – die bulgarische Nikolauskirche (1898) und die Kathedrale „Peter und Paul“ des Erzbischofs von Tomis, 1885 erbaut im byzantinischen Stil, sie beherbergt die Reliquien der frühchristlichen Märtyrer Astion und Epiktet aus der Festung von Halmyris. Die römisch-katholische Kirche des Heiligen Antonius von Padua (1937) im norditalienischen Stil, man erzählt sich, Papst Johannes Paul II. habe sie lange vor seinem Pontifikat als polnischer Tourist besucht. Und eine Synagoge: Das Bethaus der jüdischen Aschkenasen ist dem fortgeschrittenen Verfall preisgegeben, obwohl es noch ca. 50 Juden in Konstanza gibt. Angedacht ist eine Renovierung mit EU-Geldern, im Sinne der Komplettierung eines funktionellen Achtecks der Konfessionen.
Seidenraupen, Erdbett, Metallgeschirr
Doch Gräber und Kultorte verraten wenig über den Alltag der einfachen Menschen, die die Dobrudscha einst besiedelt haben. Diesem Defizit kann das Museum der Volkskunst zumindest teilweise entgegenwirken. Wie das Archäologiemuseum logiert es heute im ehemaligen Rathaus, dem ersten der Stadt, 1895 im neorumänischen Stil erbaut. Neben Exponaten aus dem ganzen Land – denn viele ausländische Touristen, die Konstanza besuchen, interessieren sich auch für das übrige Rumänien, erklärt Museografin Ioana Tömpe – beherbergt das prächtige Gebäude auch eine Sammlung zur Dobrudscha, die deren Besiedlung durch verschiedene Völker reflektiert. Am rechten Donauufer von Ostrov bis Hârșova fanden sich traditionelle rumänische Ansiedlungen, während im Karasu-Tal im Zentrum der Dobrudscha eine ethnische Melange aus Rumänen, Türken, Tataren, Bulgaren und russischen Lipowanern entstand. Ein Saal widmet sich Holzikonen aus der Dobrudscha mit griechischen und lipowanischen Einflüssen. Ein anderer zeigt Objekte aus dem täglichen Leben und erlaubt einen Blick in rekonstruierte Wohnräume. Typisch für die Dobrudscha ist das gestampfte Erdbett, denn mangels Holz waren Möbel rar. Dieses war mit einer Wollmatratze und gewebten Decken bedeckt, worauf Zierkissen mit Spitzenbezug thronten, sie fungierten allerdings nur als Dekor - ein Brauch aus dem osmanischen Reich. Am Kopfende des Betts stand die obligatorische Aussteuertruhe. Weil jedoch Holz in der Dobrudscha Mangelware war, entwickelte sich mit Kronstadt/Brașov ein reger Handel zu bemalten Aussteuertruhen.
Seide hingegen wurde in jedem Dorf selbst hergestellt. Hierfür züchteten die Frauen Seidenraupen auf Maulbeerbäumen. Die Kokons warfen sie in siedendes Wasser und zogen mit einem Ästchen Fäden in gewünschter Dicke hoch – für ein Leintuch etwas gröber, für einen Schleier, wie er an Festtagen getragen wurde, hauchzart und fein. Der im Rumänischen gebräuchliche Begriff „borangic“ für diese handgemachte Seide kommt übrigens aus dem Türkischen.
Vieles kann man aus den archäologischen Funden schließen: Ein Volk, das metallenes Geschirr benutzte, war wahrscheinlich wenig sesshaft, Metall lässt sich leicht und problemlos transportieren. Wurden hingegen Keramikgefäße gefunden, war dies ein Hinweis auf ein stabiles Leben, eine Siedlung oder Städte. Denn die Herstellung setzt Wissen über einen Fundort von geeignetem Ton, die Existenz von Brennöfen voraus, zudem ist Keramik zerbrechlich und ungeeignet für ein nomadisches Reitervolk. „Im Mittelalter, das von Kriegen und Migrationsbewegungen geprägt war, wurde Metallgeschirr verwendet“, erklärt Tömpe.
Im Strudel der Eindrücke
Die Stadt hat viele Gesichter. Am frühen Morgen zeigt sie uns leere Strände und ein glasklares, türkisenes Schwarzes Meer, das seinen Namen Lügen straft. Am Tag folgen wir in gleißender Sonne den Spuren der Völker durch die Epochen der Geschichte.
Am späten Abend graben sich unsere wunden Füße in den kühlen Sand, im Hintergrund das lindernde Flüstern der Wellen. Der Strand ist wieder menschenleer. Zurück bleibt die Lichterkette von Mamaia, bunt und blinkend, die kilometerweit die Küste erobert hat, Kulisse des nachtschlafenden „Las Vegas“ von Konstanza. Und die riesigen Albatrosse, die Freßbares suchend unter den Laternen am Sandstrand patroullieren. So manch einer fliegt mit einer Plastiktüte von dannen… Im Kaleidoskop der Sinne purzeln die Eindrücke und Erlebnisse der letzten Tage durcheinander. Überlagern sich kreisend wieder und wieder zu einem neuen, bunten Bild. Und auf einmal wird mir klar: Es gibt kein eines Konstanza – sondern viele! Sie überlagern sich wie die Merkmale der Schlange Glykon mit der Kälbernase, den Menschenohren, dem Löwenschwanz...