Heute ist es grau und regnerisch: ohne Herbstmantel, Regenschirm und Handschuhe ist man verloren. Von dem beinah sommerlichen Wochenanfang ist so gut wie nichts mehr übrig, geschweige denn von der strahlenden Osterwoche. Wolfenbüttel ist an diesem kalten Sonntagmorgen menschenleer. Keine Spur mehr von den vollen Terrassen rund um den Stadtmarkt, von dem Gewimmel in den Einkaufsgassen, von Spaziergängern im Seeliger Park oder entlang der Grachten, die den stolzen Namen „klein Venedig“ tragen. Keine Spur von Touristengruppen, die das schöne Rathausgebäude und die zahlreichen Fachwerkhäuser der Altstadt fotografieren. Draußen kann man heute nicht viel unternehmen...
Zum Glück verbirgt sich auch hinter den Fassaden der kleinen Renaissance-Stadt ein großer Schatz: In den Mauern ist Geschichte eingespeichert, die Bausubstanz hat vergleichsweise geringe Kriegsschäden erlitten, ein Besuch ist eine Entdeckungsreise in die Vergangenheit. Schnell ein Blick in meinen Reiseführer: Wolfenbüttel wurde 1118 erstmals urkundlich erwähnt und war von 1432 bis 1753 Residenz der Herzöge zu Braunschweig und Lüneburg. Bis heute ist die Stadt im Südosten Niedersachsens international gut vernetzt, auch mit Rumänien: zu den Partnerstädten, mit denen regelmäßig gemeinsame Projekte ins Leben gerufen werden, gehört seit 1970 Sathmar/Satu Mare.
Das „achte Weltwunder“: die Herzog August Bibiothek
Der Kultur-Rundgang kann beginnen. Ich beeile mich zu meiner ersten Station, der Herzog August Bibliothek am Lessingplatz, die jeden Sonntag um 11 Uhr eine öffentliche Führung anbietet (Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr, Eintritt 5 Euro). Meine Ausstattung für kaltes Wetter gebe ich in der Garderobe ab – denn „auch früher musste man seinen Degen draußen lassen, bevor man die Hallen betrat“, so unsere Führerin. Heute dürfen die Benutzer lediglich Bleistift, Papier, Laptop „und frisch gewaschene Hände“ mitnehmen, Kugelschreiber sind nicht gestattet – denn es geht um eine der ältesten unversehrt erhaltenen Bibliotheken der Welt.
Sie wurde 1572 von Herzog Julius gegründet und unter ihrem Namensgeber, Herzog August, bereits als „achtes Weltwunder“ angesehen. Gottfried Wilhelm Leibniz und Gotthold Ephraim Lessing arbeiteten hier als Bibliothekare. Selbst heute konkurriert der Bücherbestand – eine Million Bände, davon 350.000 aus dem 15. bis 18. Jahrhundert – mit jenen in Rom und Wien. Gedämpftes Licht, strahlend weiße Bücher in den Regalen der prächtigen Augusteerhalle, Bibliotheksgeruch und Gespräche im Flüsterton verleihen dem Haus seine einzigartige Stimmung. Hinter Glasfenstern verbergen sich Kulturgüter von unschätzbarem Wert. Eine Auswahl wird zurzeit (bis August) unter dem Titel „1000 Jahre Schrift und Bild” gezeigt: unter anderem Schriften aus dem 8. und 9. Jahrhundert wie der „Wolfenbütteler Psalter“, Frühdrucke wie eine der ersten Bibeln aus der Druckerei des Bambergers Albrecht Pfister (15. Jahrhundert) oder ein winziges „Berlockenbuch“ von nur 20 mal 18 Millimetern (18. Jahrhundert). Ein Mädchen aus unserer Gruppe staunt vor einem modern anmutenden Bild aus der spätmittelalterlichen „Kölner Apokalypse“: „Das ist aber ein schicker Drache! Passt hervorragend für ein Tattoo!“
Die größten Schätze werden allerdings nur als Faksimile gezeigt – so etwa das Evangeliar Heinrichs des Löwen aus dem 12. Jahrhundert, eine der kunsthistorisch wertvollsten Handschriften des Mittelalters, die lange Zeit als verschollen galt. Das Buch tauchte erst in den 1980er Jahren wieder auf und konnte für 32,5 Millionen D-Mark ersteigert werden. Das Original der Pergamenthandschrift ist lediglich alle zwei Jahre öffentlich in der Bibliothek zu sehen. Die jüngeren Besucher aus unserer Gruppe tummeln sich um den großen Helmstedter Himmelsglobus und den Erdglobus (1585/1600) und versuchen, alte Karten zu entziffern. Die dargestellten Regionen sehen aus, als wären sie ein wenig aus der Form gelaufen, doch es ist erstaunlich, wie viel von der Welt bereits bekannt war. Auf einer Europakarte von Caspar Vopel (1572, in Antwerpen gedruckt) finde ich zum Beispiel „Transsylvania“ und vertraute Ortsbezeichnungen wie „Brascovia“, „Bran“ und „Fogaros“! Eigentlich könnte man tagelang durch diese Räume gehen und doch würde die Zeit nicht reichen, um alles zu sehen.
Dichterhaus, Welfenschloss und Hallenkirche
Ich breche zur nächsten Station auf, dem schicken, gegenüberliegenden Lessinghaus. Der Gelehrte, der in Wolfenbüttel bereits „Emilia Galotti“ geschrieben hatte, bezog dieses gemütliche Wohnhaus kurz vor Weihnachten 1777, doch der Umzug stand unter dem Zeichen der Trauer: Sowohl sein Sohn, als auch seine Frau starben innerhalb von wenigen Wochen. Nichtsdestotrotz fand Lessing die Kraft, hier seinen „Nathan” zu schreiben. Einzelheiten zum Leben und Werk des Autors, der bis heute mit seinem pointierten, kritischen und engagierten Ton die Leser fesselt, kann der Besucher in den Ausstellungsräumen der ehemaligen Wohnung erfahren (Eintritt mit der Tageskarte von der Bibliothek).
Auch das unweit gelegene Welfenschloss mit seiner Prunkfassade – es ist das zweitgrößte noch erhaltene Schloss Niedersachsens – ist durchaus einen Besuch wert. Führungen gibt es hier regelmäßig, doch die heutige habe ich gerade verpasst. Macht nichts, ich erkunde selbstständig die wunderschönen Räume mit knarzenden Dielen – wie ich aus einer Broschüre erfahre, handelt es sich um die einzigen hochbarocken Staatsappartements des Landes, „eindrucksvolle Beispiele fürstlicher Wohn- und Tafelkultur aus dem Zeitalter des Absolutismus“ (Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr).
Zum Schluss meines kleinen Rundgangs schaue ich mir noch die Hauptkirche der Stadt, „Beatae Mariae Virginis“ an, und muss vor diesem Prachtbau staunen. Das imposante Gotteshaus ist, wie ich erfahre, eine der ersten bedeutenden Großkirchen des Protestantismus und ist an die Tradition mittelalterlicher Hallenkirchen angelehnt, enthält aber Stilelemente der Gotik, der Renaissance und des Barock zugleich. Gebaut wurde sie im 17. Jahrhundert vom herzoglichen Baumeister Paul Francke. Was mich fesselt, ist das reich verzierte Orgelprospekt (Georg Huebsch, Friedrich Greyss), hinter dem sich eine viermanualige Orgel verbirgt. Schade, dass es heute kein Orgelkonzert gibt. Ich würde noch gerne die unweit gelegene barocke St. Trinitatiskirche besuchen, die Türe ist leider versperrt.
Kräuterlikör mit Tourismuspotenzial
Brrr, ist mir kalt! Nur eins kann mich in dieser Kälte noch aufmuntern: ein Schluck Jägermeister! Der weltberühmte Kräuterlikör wird seit genau 80 Jahren in Wolfenbüttel hergestellt - und seit etwa vier Jahrzehnten in mehr als 80 Länder der Welt exportiert. Die Produktionsstätten und Verwaltungsräume befinden sich zehn Gehminuten weiter in der Jägermeisterstraße, doch auch in der Altstadt gibt es einen großen Shop mit Fan-Artikeln.
Wer in Wolfenbüttel länger bleiben möchte, kann noch viel mehr erleben. Mit Voranmeldung kann man etwa die Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel besuchen – für Gruppen gibt es ausführliche Führungen oder auch ganztägige Studientage rundum das Thema „Justiz im Nationalsozialismus - Verbrechen im Namen des deutschen Volkes“ (Infos: E-Mail , Web). Das Lessingtheater hat zwar kein festes Ensemble, dafür aber einen ansprechenden Spielplan mit jährlich etwa einhundert Aufführungen und immer wieder guten Kritiken in der Presse. Kulturinteressierten und –tätigen bietet die Bundesakademie für kulturelle Bildung Kurse und Tagungen in den Bereichen bildende und darstellende Kunst, Kulturmanagement, Literatur, Musik. Nach Wolfenbüttel komme ich gewiss wieder!
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Touristeninformation
Die Wolfenbütteler Touristeninformation befindet sich am Stadtmarkt 7A, Tel. 0049/5331/86280 und 0049/5331/867708, E-Mail , Web
Einstündige Stadtführungen gibt es von Ostersamstag bis zum 3. Oktober täglich um 14.30 Uhr, und vom 4. Oktober bis Karfreitag nur samstags zur gleichen Uhrzeit. Treffpunkt ist das Portal des Welfenschlosses. Eine Voranmeldung ist nicht notwendig, der Preis beträgt 5,50 Euro.
Für Kräuterlikör-Fans gibt es sogar eine Jägermeister-Kultur-Genuss-Tour, die ganzjährig, jeden ersten Montag im Monat, ab 10.30 Uhr stattfindet. Treffpunkt ist das erwähnte Tourismusbüro, wo man sich im Voraus auch unbedingt anmelden muss. Das Angebot umfasst einen Rundgang durch die Altstadt, den Besuch des Jägermeister-Fanshops, das Mittagessen, sowie eine anderthalbstündige Führung durch das Jägermeister-Werk. Gesamtdauer 4,5 Stunden, Preis 19,50 Euro.