Als ich noch als kleiner Junge in der Großsanktnikolauser Altgasse über Karl May und den „Leder-strumpf“ die ersten Amerika-Vorstellungen vermittelt bekam, die sich im Laufe der Zeit durch die Massenmedien vervollkommneten, spielte die Phantasie eine entscheidende Rolle. Doch die Wirklichkeit weicht vom imaginär geprägten Bild meistens erheblich ab. Auf einer mehrwöchigen Amerika-Reise, die mich auf über 6000 Straßen- und 10.000 Flugkilometern durch mehrere Bundesstaaten im Osten und Westen der USA führte, hatte sich mir die Möglichkeit geboten, das wirkliche US-Amerika kennenzulernen. Hier ein paar Reiseeindrücke aus dem Osten der USA.
New York - Stadt der Städte
Ein Freitagnachmittag im Juli: Der Taxifahrer vor dem J.F. Kennedy-Flughafen diagnostiziert uns sofort als Ausländer und nennt seinen Preis nach Manhattan. Wir haben uns jedoch bereits in Wien informiert und wissen genau, was wir berappen dürfen. Entschuldigend meint der dunkelhäutige Latino-Amerikaner, sein Trinkgeld sei schon mitberechnet. Unterwegs spielt er den Reiseleiter, als es durch das schmutzige Jamaika-Viertel in Queens geht, wo Drogensucht und Arbeitslosigkeit regieren. Er „kennt“ aber auch Mozart, Schubert und die Strauß-Familie.
Manhattan: An einer Kreuzung slalomt ein etwa vierzigjähriger farbiger Rollstuhlfahrer bettelnd durch die bei Rot wartenden Wagenkolonnen.„Dem fehlt gar nichts“, meint der Taxifahrer, „wenn es dem keinen Spaß mehr bereitet, steht er auf, klappt seinen Rollstuhl zusammen und verschwindet...“
Abends: Wir stehen auf der Aussichtsterrasse des 102. Stockwerks des Empire State Buildings, auf 380 Metern Höhe, von Wolken umringt. Vergessen ist die Nachmittagsschwüle. Eiskalt schneidet der Wind uns Furchen ins Gesicht. Das Lichtermeer der Stadt liegt uns zu Füßen. Der East-River, der Hudson-River im Westen, nördlich ein dunkles Rechteck: der berühmte - bei Dunkelheit eher berüchtigte - Central-Park.
Spricht man von New York, so ist gewöhnlich nicht der Bundesstaat, sondern New York-City gemeint, eigentlich aber nur Manhattan, das 20 Kilometer lange und 3 km breite Insel-Herzstück der Stadt. 1,5 Millionen Menschen wohnen auf nur 60 Quadratkilometern. Manhattan ist der kleinste von den fünf Stadtteilen New Yorks. Es ist die „Stadt in der Stadt“ mit vielen Gesichtern, ein Völkergemisch rassischer Vielfalt, ein buntes Sprachenmeer multikultureller Prägung.
Wir schlendern durchs Chinesen-Viertel im Südosten Manhattans, wegen seiner rivalisierenden Jugendbanden nachts zu meiden. Unbedenklich ist es hingegen im anschließenden Italiener-Viertel: hier herrscht Ruhe und Ordnung - die Mafia hat alles im Griff. U-Bahn fahren in New York ist oft verteufelt worden, in den Stoßzeiten, den „Rush Hours“ (unbequem aber sicher) und tagsüber wohl zu machen. Dem New Yorker wird nachgesagt, dass er in der U-Bahn stets ernste Miene und sein Portemonnaie niemals in der Gesäßtasche trage...
Die dreistündige Bootsfahrt von Pier 83 rund um Manhattan ist Pflicht. So gelangt man in Freiheitsstatue-Nähe. Von hier ist es nicht mehr weit bis zu jener kleinen Insel, auf der die Durchgangsstelle für Millionen Einwanderer das Tor zur „Neuen Welt“ und zur zweiten Heimat geöffnet hat.
Im Lincoln Center: die Met bietet Stehplätze bereits um 7,5 US-Dollar, die Preise nach oben gehen wohl in die Hunderte. Schwierig ist, sich für ein Museum zu entscheiden. Wir bevorzugen das Metropolitan Museum of Art auf der Lexington Avenue, beim Central Park. Die Met bietet von den klassischen Hochkulturen bis zur Postmoderne für jeden Geschmack etwas und würde den Besucher wochenlang beschäftigen.
Niagara - ein gewaltiges Schauspiel
Über New Jersey verlassen wir New York City, befreit von klaustrophobischen Gefühlen, der lähmenden Schwüle entgangen. Gepflegte Farmen und wohlbestellte Felder reihen sich der Autobahn entlang in Richtung Buffalo, wo der gewaltige, Hunderte von Metern breite Niagarastrom vom Erie See zum Ontario eilt. Wir kommen unterwegs nach Elmira, wo Mark Twain seinen Huckleberry Finn geschrieben hat. Kurz vor den Katarakten teilt sich der Strom in zwei Arme: einer führt seine Wassermassen zum 675 Meter breiten und 50-60 Meter hohen Hufeisenfall, der andere zu einem 325 Meter breiten und 55 Meter hohen Fall.
Das gewaltige Schauspiel ist ein Wunder der Natur für das menschliche Auge. Mit einem 250-300 Personen fassenden Boot geht es regenummantelt, wohlverpackt in eine blaue Nylon-Uniform, an Bord. Der Kapitän führt, von seiner wasserdichten Kommandobrücke aus, das Boot bis auf 30 Meter heran. Orkanartig stürzen die tosenden Fluten herab und klatschen weiß schäumend auf den Wasserspiegel. Immer wieder tauchen unvermittelt die bunten Regenbogenfarben auf. Das sintflutartige Geprassel durchnäßt uns trotz Regenmäntel. Ohrenbetäubendes Gedröhne, und die jaulenden Touristen kämpfen um einen geeigneten Schnappschußplatz. In diesem Getöse winselt die Stimme des Kapitäns durchs Mikrophon: „Meine Damen und Herren, das sind die wahren Niagara-Fälle...“ Vom Fallen offensichtlich ermüdet, beruhigen sich unten allmählich die Fluten und suchen ihren Weg durch ein Schluchttal, dem Ontario-See entgegeneilend.
Bei den „Amish-people“ in Pennsylvania
Sie lehnen alles Moderne ab, verzichten auf Autos, elektrischen Strom, Bildung usw. Lediglich Propangasflaschen finden sich im Haushalt. Pferd und Wagen sind Transportmittel Nr. 1. Nur das Notwendigste wird den Kindern von eigenen Lehrerinnen - meist alten, unverheirateten Damen - beigebracht. Die Devise der „Amish-people“: Beten und Arbeiten. Feldarbeit und Viehzucht sind ihre Hauptbeschäftigungen. Kinderreichtum sichert die Altersversorgung. Amish-people oder Dutch werden sie von den Amerikanern genannt. Vom Schweizer Jakob Amman 1693 als Anna–Baptisten-Sekte gegründet, fanden sie in Pennsylvania eine willkommene Bleibe.
Wir halten in der Nähe von Lancaster auf einer Farm. Ein etwa zehnjähriges Mädchen stellt sich vor: „Ich hääsch Anni Fischer und häw vier Brieder und 3 Sisters. Mir häwe zehn Phäär und treisich Khi. Mei Eldre paue Frucht und Korn (gemeint ist ‚Mais‘) an.“ Auf meine Frage: „Hät teer aach Hun un Katze“? kam die prompte, selbstverständliche Antwort: „Ä joo, meer hän zwä Hun und troi Katze“. Ich fragte weiter: „Gehscht du aach in die Schul“?, worauf das Mädchen meinte: „Jo, aawer nimi lang...
Eine friedliche, arbeitsame Gemeinschaft, die mit ihrer Umgebung gut zurechtkommt. Strenge Sitten und gepflegte Bräuche überbrücken den Bogen zwischen Herkunft und Gegenwart. Ihnen ist, wie auch den Latino-Amerikanern und den Indianern, die Zweisprachigkeit erhalten geblieben. Wohl steigen jährlich um die sechs Prozent, vor allem junge Menschen, aus dieser Religionsgemeinschaft aus, was zahlenmäßig jedoch durch den Kinderreichtum ausgeglichen werden kann.
Washington - die Hauptstadt der Hauptstädte
Durch den waldreichen Gebirgszug der Appalachen geht es der amerikanischen Hauptstadt zu. Washington ist eine europäisch anmutende Stadt - ein Gegenstück zu New York: Breite, von verschiedenen Denkmälern radial ausfallende Boulevards, viel Grün, sauber und überschaulich. Niedrigbauten im Vergleich zu New Yorks Wolkenkratzern, denn kein Gebäude darf höher sein als das Kapitol...
Der tägliche Zustrom von 3,5 Millionen Menschen kann von der 750.000 Einwohnerstadt gerade noch verkraftet werden. Neben den Weltenbummlern kommen ganze Armeen von Amerikanern in „ihre“ Hauptstadt, denn es ist die heilige Pflicht für jeden US-Bürger, einmal in der Hauptstadt gewesen zu sein. Trotz allem, keine Hektik.
Hannelore, eine in Washington lebende Deutsche, unsere gewandte Reiseleiterin, schleust uns durch einen Hintereingang ins Kapitol. Wir entkommen dem Gewirr endloser Touristenschlangen und stehen plötzlich vor dem Sitzungssaal des Senats, erhalten Eintritt zur Galerie. Eine Senatsdebatte um Waffen im Unterricht wird u.a. auch von Senator Edward Kennedy im Saal aufmerksam verfolgt.
Der Heldenfriedhof Arlington liegt jenseits des Potomac-Flusses, also bereits in Virginia. Auch ein Friedhofsbesuch ist ein Muß für jeden patriotischen Amerikaner. Die Kennedys besitzen dort einen riesigen Grabhügel, Pilgerziel von Touristen verschiedener Nationen. Vor allem John F. Kennedys Grab ist stets umringt und reich beblumt.
Das ältere Georgetown - besser als Universitätsstadt bekannt, gab es lange vor der Hauptstadt Washington D.C. (District Columbia) - das Weiße Haus und das Regierungsviertel wurden erst 1800 auf „zehn Quadratmeilen in der Wildnis“ errichtet.
Philadelphia - die historische Stadt
Für die meisten deutschen Einwanderer in die neue Welt war Philadelphia die Anlaufstelle. Historisch gesehen bedeutungsvoll, wurde doch 1776 hier die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet, gilt Philadelphia als die Geburtsstadt der Nation. Die Stadt am Delaware-Fluß wird mit ihren 80 Kilometer Kaianlagen zum größten Süßwasserhafen der Welt. Wir besuchten das „Geburtshaus“ der amerikanischen Flagge. An vielen Häusern im patriotischen Amerika weht das Sternenbanner – im ganzen Land.
Während der gesamten Reise durchblätterte ich an all unseren Stationen die Telefonbücher. Vertraut klingende „Banater“ Namen, der amerikanischen Schreibweise wohl angepasst, graphemisch oft aber in ursprünglicher deutscher Schreibweise erhalten, sind im Philadelphia-Telfonbuch besonders häufig verzeichnet.
Auffallend ist im allgemeinen trotz des geschäftlichen Treibens die Ruhe der Amerikaner. In Gesprächen merkt der Amerikaner, dass er es mit Ausländern zu tun hat, obwohl auch Neo-Amerikaner die Sprache oft nur in beschränktem Maße beherrschen. Geduldig wartet man auf unsere Erklärungen und Verdeutlichungsversuche. Mit fast stoischer Ruhe macht jeder seinen Job.
Ein einziges Mal rückte etwas Hektik ins Bild: Wir saßen bereits in der Maschine nach Los Angeles, als es plötzlich hieß, ein kleines Problem verzögere den Abflug. Der Triebwerkschaden wurde in vier Stunden behoben. Kein Lamentieren oder Geschimpfe. Gelassen nahmen es die Passagiere hin, bis auf eine schimpfende Mutter mit vier Kindern: Sie war Französin. Aus dem Nachmittagsflug wurde ein Nachtflug.