2017 hat Europa seine beiden Kulturhauptstädte weit voneinander entfernt positioniert: Paphos (Zypern) im Mittelmeer am südöstlichen Rand und Aarhus auf der Jütland-Halbinsel. Die zweitgrößte dänische Stadt (265.000 Einwohner) stellt sich unter dem Motto „Let‘s Rethink“ als innovatives und kreatives Kulturlaboratorium vor, wo die eigenen Wurzeln hinterfragt und Raum und Offenheit für Alternativen angeboten werden. Die einstige Wikingersiedlung beherbergt heute die größte Universität Dänemarks und bietet ihren Besuchern nicht nur über 400 besondere Kulturevents im Kulturhauptstadtjahr, sondern auch einmalige Sehenswürdigkeiten: das moderne Kunstmuseum AroS - in Anlehnung an den alten Stadtnamen Aros, aber auch an Ars, Kunst, mit seinem atemberaubenden Regenbogen-Panorama auf dem Dach; das Schloss Marselisborg, das Besuchern offen steht, sofern Königin Margrethe nicht gerade in ihrer Sommerresidenz verweilt; oder das Moesgĺrd-Museum mit seiner modernen Architektur, ganz im Kontrast zu seiner prähistorischen Thematik. Einzigartig ist auch die alte Stadt, auf Dänisch „Den Gamle By“, die jährlich rund eine halbe Million Besucher - ein Viertel von ihnen Ausländer - vorweisen kann.
Eine Stadt in der Stadt
„Den Gamle By“, auf Deutsch „die alte Stadt“, ist das weltweit erste städtische Freilichtmuseum. Es entstand bereits 1909, als im Bürgermeisterhof mehrere historische Ausstellungen gezeigt wurden, die einen unerwarteten Besuchererfolg hatten. Der an Geschichte interessierte Lehrer und Übersetzer Peter Holm (1873 – 1950) hatte die Initiative, eine dauerhafte Ausstellung zu gründen, die Dänemarks Geschichte veranschaulichen sollte. Bis 1914, als dieses Freilichtmuseum offiziell eröffnet wurde, sind drei weitere historische Gebäude erworben worden. Es folgten viele andere - heute sind es insgesamt 75 Häuser - aus allen Teilen Dänemarks, die aufgekauft und nach Aarhus versetzt wurden. Der Grundgedanke war, das Leben in Dänemarks „Marktstädten“ (früher hatten die meisten um die 1000 Einwohner) möglichst originalgetreu nachzustellen. So entstand „eine Stadt in der Stadt“ mit mehrstöckigen Wohnhäusern, Werkstätten und Läden, gepflasterten Straßen und Hinterhöfen, in denen man eine längst verschwundene Welt entdeckt. Die Besucher können die Türen öffnen, eintreten, Sammlungen bewundern, Fragen stellen, manchmal den Handwerkern bei ihrer Arbeit zusehen und in den Läden Gebäck und Süßigkeiten, Souvenirs und Kleinigkeiten kaufen, in Gasthäusern eine Mahlzeit oder einfach Bier oder Kaffee bestellen. Im „Madkassen“ (auf Deutsch „Brotdose“), ein Haus aus Südjütland aus den 1750er Jahren, gegenüber der Brauerei gelegen, stehen Tische und Bänke bereit, um die mitgebrachte Jause zu verzehren. Auf der Festwiese („Festpladsen“) entdecken die Kinder Karussell und Schiffschaukeln; Stelzen und die Kegelbahn können auch ausprobiert werden. Wer will, kann die alte Stadt in einem selbstverständlich zeitgemäßen Vehikel – eine Pferdekutsche – erkunden.
Nicht nur zum Anschauen
Das Museum ist „lebendig“: Der Verkäufer im Kaufmannsladen gibt gern Auskunft über die Ware, die im 19. Jahrhundert verkauft wurde; die Pfarrwitwe und ihre Tochter, gekleidet wie zu Andersens Zeit, empfangen ihre Besucher in ihren Wohnungen und sprechen über ihr Leben in dem Witwenstift, das aus Odense, direkt aus der Nachbarschaft von Andersens Elternhaus, nach „Den Gamble By“ versetzt wurde. Im kleinen Klassenzimmer der Schule aus dem 19. Jahrhundert hört man die Schüler die Worte des Lehrers im Chor nachsprechen. Zu sehen ist auch ein Sandtisch, auf dem die Jüngsten die Buchstaben nachzeichneten, bevor sie zu Griffel und Tafel übergingen. In einem Zinshaus mit Armenwohnungen sieht man ein verwahrlostes, ungekämmtes Mädchen traurig am Tisch sitzen, während ihr Vater im Bett liegt und sein lautes Schnarchen zu hören ist. Die leere Weinflasche droht seiner Hand zu entgleiten. In der Tischlerwerkstatt weist auf einem Bildschirm ein unzufriedener Meister seinen Lehrling zurecht. Dieser hat den Kopf gesenkt, sieht auf den Boden und kassiert abschließend auch eine Ohrfeige, damit er die Schelte nicht so schnell vergisst.
„Die alte Stadt“ ist nur zum Teil Jahrhunderte alt. Außer den Wohnhäusern, Höfen, Werkstätten, die aus der Zeitspanne vom 16. Jahrhundert bis 1864 (als Dänemark im deutsch-dänischen Krieg Schleswig und Holstein verloren hatte) stammen, und die bürgerliche Wohnkultur, aber auch das Leben der Belegschaft, der Lehrlinge dokumentieren, gibt es zwei weitere „Stadtviertel“: eines, das die Modernisierung der Städte um 1927 belegt und ein anderes, das auf die 1970er Jahre zurückblickt. Schaufensterauslagen eines Fotogeschäftes, eines Reisebüros, ein offener Laden, wo zum Teil Selbstbedienung eingeführt wurde, ein Kindergarten in einer Privatwohnung, Büros einer Versicherungsfirma – all dies gehört für die ältere Generation zu den Kindheitserinnerungen, bedeutet aber für die nachkommenden Generationen bereits Geschichte.
„Den Gamle By“ ist das ganze Jahr über (außer Heiligabend, am ersten Weihnachtstag und an Neujahr, dem 31. Dezember und 1. Januar) geöffnet. Das Museum gilt im Michelin-Führer als 3-Sterne-Sehenswürdigkeit. Dementsprechend sind auch die Eintrittspreise, die, wie auch die Öffnungszeiten, saisonbedingt ausfallen: Die längsten Öffnungszeiten (von 10 Uhr bis 18 Uhr) und die höchsten Preise (18,63 Euro oder 135 Dänische Kronen) gibt es im Sommer (24. Juni – 3. September oder an Wochenenden). Dafür ist der Eintritt für alle unter 18 Jahren frei! Gruppen ab 20 Personen erhalten eine Ermäßigung. Der Eintrittspreis gewährt freien Zugang zu sämtlichen Sammlungen, Ausstellungen, Workshops und anderen Veranstaltungen. Die Museumsleitung empfiehlt eine Besuchszeit von mindestens drei Stunden und nennt als „ein Muss“ folgende Orte der „Alten Stadt“: der Münzmeisterhof, der Aarhuser Kaufmannshof, das Dänische Plakatmuseum, die Kunstkammer, Pouls Radio und die Ladenstraße aus dem Jahre 1974. Tatsächlich: obwohl die Zeit in Den Gamle By stillzustehen scheint, verfliegt sie für einen aufmerksamen Besucher im Nu.