Rings um den Durchgang zwischen Marienkirche und Rathausmarkt ragt UNESCO-Weltkulturerbe in die Höhe. Bauten, deren Innenleben für bescheidene Münzen und auftrumpfende Scheine ausgekostet werden kann. Nur vier Euro kostet der Eintritt in die Marienkirche, Wirkungsstätte des großen Kantoren Dieterich Buxtehude (1637-1707) und wie Phönix aus der Asche wiederauferstandene Kultstätte, die es im Zweiten Weltkrieg elendst getroffen hatte. Im Marzipantempel auf der Breiten Straße hingegen ist mit vier Euro nicht viel auszurichten. Schwierigst, ein Stück Torte oder zwei Kugeln Eis zu genießen, wenn sich das Auge an der glitzernden Süßparade nicht sattsehen kann. Eine Abzocke, für die der 88 Jahre alte Einheimische in der engen, antiquarischen und mit Ausgaben aller Zeiten und Gebiete randvollen Rathausbuchhandlung Hilde Otto, Markt 16a, nichts weiter als spöttelnden Witz übrig hat: „Leider nehme ich Geld. Nur bei Niederegger gibts alles umsonst!”
Kalt ist die Ostsee und flach die Hanse. Schleswig-Holstein hält keine nennenswerten Bergspitzen, dafür jedoch umso zahleichere stattliche Kirchen bereit. Baumlang auch die Menschen, die darin regelmäßig ein- und ausgehen. In einer Luft wie derjenigen Norddeutschlands liegt kühles Aufeinanderzugehen verwahrt. Weil das Relief keine Versteckmöglichkeiten bietet, geben sich hier Lebende von Natur aus reserviert. Ihr Körperbau leistet Ansage genug – Lübecker sind gut und gerne schmale zwei Meter groß, tragen Hornbrille und das angegraute Kopfhaar in halber Schulterlänge auf breitem Oberkörper fahrradfahrend durch den Straßenverkehrswind. Tomas Otto, Inhaber der Rathausbuchhandlung Hilde Otto, und der oben erwähnte Bücherwurm in einfachem, aber piksauberem Zivil sind wohl ein und dieselbe Person. Der leicht bucklige Händler steht kurz vor der Neunzig, doch seine Geistengegenwart spricht Bände.
Sobald man nichtsahnend in Thomas-Mann-Exemplaren der Zwischenkriegszeit blättert und auf der Titelseite einer hartgebundenen Ausgabe einen mit stumpfem Bleistift geschriebenen Eintrag in gotischer Handschrift rasch überfliegt, schreckt Herr Otto hoch: „Oh, mein Gott, geben Sie her, bevor Schlimmeres geschieht. Das ist die Ausgabe der ,Buddenbrooks´ von 1929 mit Widmung und Autogramm des frischgekürten Nobelpreisträgers!” 1500 Euro muss berappen, wer das Sammlerstück aus der Rathausbuchhandlung entführen will. Der Wortkarge hat berechtigte Angst davor, Literatur-Banausen in feinen Wälzern schmökern zu lassen. Doch die Gunst des Hausherren ist leicht zurückzugewinnen, falls man den eigenen Wortschatzreichtum virtuos in der Gewalt hat und sich dadurch das Willkommensein verschafft. Vor dem Hinausgehen lohnt das Durchforsten einer Schuhschachtel voller Schwarzweißfotos- und -Ansichtskarten aus dem Lübeck zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder noch früher. Große Geschichte für kleines Geld, denn für die angegilbten Bilddrucke werden Einzelpreise von höchstens fünf Euro berechnet.
Der 240 Seiten starke Fotoband „Karl Braune. Lübeck und Travemünde. Fotografien 1930-1965“ von Herausgeber Jan Zimmermann, erschienen 2016 im Junius Verlag GmbH, kostet 39,90 Euro. In der Rathausbuchhandlung gibt es ihn zwar nicht billiger, dafür aber mit freigiebigen Insider-Tipps. Es ist nicht zu ändern: Niederegger-Marzipan für kurze Momente des Glücks, Karl Braunes phänomenale Bildaufnahmen als Hinweis auf Vergangenheit, Krieg und mühsamen Wiederaufbau von Kunst und Kultur.
Bis zur Pensionierung 1961 war Karl Braune Beamter des Lübecker Landgerichts, das er als Justizobersekretär verließ. 1971 schied er aus dem Leben. Viel Zeit für seine Kameras wird er nicht gehabt haben. Trotzdem ist sein photographisches Handwerk erste Sahne. „Am allermeisten macht mir Spaß/zu panschen im Entwicklernass“, so der Grundsatz eines Funktionärs, der dem Gegenlicht Aufnahmen zu entlocken verstand, die auch Fotografen des 21. Jahrhunderts technisch wie gestalterisch vor Neid erblassen lassen können.
Lübeck war allererstes Anschlagopfer auf der Deutschlandkarte im Zweiten Weltkrieg. In der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942 verstümmelte die Royal Air Force weite Teile der nicht kleinen Altstadt. Marienkirche, Dom, Petrikirche und Rathaus waren enthauptet worden. Wer das Backsteinparadies an der Trave besucht und nichts von seiner Geschichte weiß, findet null Spuren des Luftkrieges vor. Dennoch nützt es, sie sich vor Augen zu führen, um den wahren Wert des Ortes von Günter Grass und Willy Brandt zu erfassen. Karl Braune hat den Schaden meisterhaft dokumentiert. Bittere Geschichte hat durchaus ihren Zweck.
Auch vom Buddenbrookhaus, Thomas Manns Geburtsort auf der Mengstraße 4, blieb nur die Fassade stehen. Es wurde gänzlich wiederaufgebaut und ist heute Museum. Ganze sieben Euro kostet die Besichtigung, und einmal mehr hat man die Wahl zwischen überteuertem Museumsticket oder den Romanen für nur ein paar Euro zusätzlich im Fischer Verlag. Das ausführliche Rendezvous von Komponist und Teufel im Kapitel XXV von „Doktor Faustus” (1947) ist nicht zu toppen. „Gott sei euerer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland.“ Was das „Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“ ausmacht, kann nur im Buch nachvollzogen werden.
„Nächste Station: Fegefeuer!“, ruft eine Frauenstimme nüchtern und ohne jedes Feixen oder Zittern aus der vorprogrammierten Durchsage im Nahverkehr, weil eine Straße im Südwinkel der eiförmigen Altstadtkarte so heißt. Augenblicklich sitzt einem der Schalk im Nacken, wenn man das akademische Ärztehaus Fegefeuer entdeckt, dessen Eingangstafel mit Offerten des Leibhaftigen und seiner Schergen gespickt zu sein scheint: Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie, Anästhesiologie, Schmerztherapie, Palliativmedizin, Rheumatologie, Innere Medizin, technische Orthopädie, verhaltenstherapeutische Praxis, Akupunktur, diabetologische Gemeinschaftspraxis, Frauenheilkunde, Geburtshilfe und Perinatalmedizin. Und all dies nicht irgendwo, sondern ausgerechnet „am Dom“. Der nebenan ab 1173 im Auftrag von Heinrich dem Löwen (1129-1195), Herzog von Bayern und Sachsen, errichtet wurde. Auch diese Vorzeigekathedrale ist 1942 von den Allierten ihrer Türme und Gewölbedecke beraubt worden, hat sich aber von Kopf bis Fuß glanzvoll erholt. Zieht irgendwann vielleicht auch mal die rechtsgefährliche Gesellschaft nach? Das „Haus der Kulturen“ direkt am Kirchhof schreibt sich Beratung, Austausch, Bildung und, ganz wichtig, Aufklärungsarbeit aufs Faltblatt. Der kleine Ort ist Servicestelle des Programmes „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“.
Noch heute ist die Ostsee gemeinhin als öffentlicher Strand der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) bekannt. Aber selbst am Meeresufer war Restriktion Jahrzehnte hindurch mächtiger als gern aus ihr ausbrechen wollende Wellen der Freiheit. Nicht zu vergessen der Eiswinter 1928/29, als die Schifffahrt wegen von Mecklenburg bis Schweden zugefrorener Ostsee monatelang pausieren musste. 25 Minuten Bahnfahrt trennen Lübeck und den Kurort Travemünde voneinander. Das glückliche Tandem blieb auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges ungeteilt. Stattdessen konnte man im Kalten Krieg an der Reling des Travemünder Strandes für zwanzig Pfennig durch ein Standfernrohr in das kahle Territorium von Walter Ulbricht und Erich Honecker hinüberlugen.
Die Kalenderscheibe der astronomischen Uhr in der Marienkirche ist auch bei nicht funktionierendem Zählwerk eine Besonderheit, führt sie doch astrologischen Tierkreis, Sternbild und Mondphasen zu einem Algorithmus zusammen, der die genaue Bestimmung der Ostersonntage von 1911 bis 2080 ermöglicht. Vorherrschende Farbe auf dem Zifferblatt ist ein angenehmes Blau, Ton des Stadthimmels an schönen Tagen. Buchautor Dr. Cătălin D. Constantin (Jahrgang 1979), Anthropologe und Ethnologe im Lehrauftrag an der Universität Bukarest, der gesamt Zentraleuropa mit fotografierender Drohne im Gepäck bereist und 2017 den tadellosen Band „Orașe în rezumat. Piețe din Europa și istoriile lor” herausgegeben hat (Peter Pan Art und Editura Universitară „Ion Mincu”), ist begeistert von der Klarheit des nordischen Himmelblaus, die sich in südlicheren Gefilden nie einstellt.
Lübeck hat 17 Jahre ausgeharrt, ehe St. Marien und ihre beiden Türme erneut in voller Pracht in das hanseatische Kobaltblau hinaufragten. Wieviel Geduld wird Paris für Notre Dame aufbringen müssen? Bestimmt sind vielerlei Szenarien möglich. Aber am Beispiel norddeutscher Erfolgsverbissenheit kommt man nicht so einfach vorbei. Eine berühmte Geschichte des Mittelalters nimmt das Licht am Ende des Tunnels trotz herzlich wenig historisch belegbarer Daten vorweg: die Story von Freibeuter und Likedeeler Klaus Störtebeker, dem Robin Hood der Ostsee. Er und seine Mannen wurden 1400 auf dem Hamburger Grasbrook dem Scharfrichter übergeben. Störtebeker soll die Bitte geäußert haben, seinen Schädel vor allen anderen auf den Holzpflock legen zu dürfen. Auf die Wette, kopflos an seinen Freunden vorbeilaufen und dadurch ihre Freiheit erringen zu können. Die Legende erzählt vom unfassbaren Coup. Wer es nicht glaubt, kann sich den zweiteiligen ARD-Abenteuerfilm von Miguel Alexandre (2006) reinziehen. Natürlich ist da eine Menge hinzugedichtet. Authentisch jedoch war und bleibt selbstlose Beharrlichkeit, die noch während des Todestaumels nach dem Gnadenstoß ganz Lübeck gestreift hat. Rumänien wartet auf seinen Klaus.