Oktober 2017, nach Einbruch der Dämmerung in der orthodoxen Synagoge der Josefstadt in Temeswar/Timișoara: Der letzte Sturm hat das Blechdach heruntergerissen, ein Teil davon liegt verknäuelt im Hof. Im Inneren zeugen dicke Schlieren an den Wänden vom hereinströmenden Regen. Der Hüter des Gebäudes schaltet das Licht an – und bemerkt, eine der kugelförmigen Lampen ist mit Wasser vollgelaufen. Wie gut, dass es keinen Kurzschluss gab! Der Fotograf knipst sich eifrig durch das klamme Gebäude, während ich ratlos im Halbdunkel herumschlenderte. Es riecht feucht und muffig. Ob man hier noch etwas retten kann?
Zwei Jahre später, ein strahlender Herbsttag, Oktober 2019: Die Spuren des Unwetters sind getilgt und vergessen, als wäre nie etwas gewesen. Unser Grüppchen - die Teilnehmer der siebten Journalistenreise, die das Departement für Interethnische Beziehungen an der Rumänischen Regierung (DRI) auf der Suche nach dem touristischen Potenzial der nationalen Minderheiten ins Banat organisiert hat - wird vom selben Hüter des Gebäudes empfangen. Die ersten Reihen des Gestühls füllen sich. Kameras und Aufzeichnungsgeräte werden in Position gebracht. Es ist geheizt, von der Empore bläst eine Klimaanlage laut - und störend – warme Luft herunter. Immerhin, kein Schimmelgeruch mehr! Geduldig harren wir aus, bis der Fremdenführer eintrifft.
Die ehemalige orthodoxe Synagoge in der Josefstadt ist die einzige der Stadt, in der heute noch Gottesdienste stattfinden, hebt dieser an. Und das, obwohl es dort keine orthodoxen Juden mehr gibt. Die traditionellen Strenggläubigen hatten im Kommunismus keinen Platz gefunden: Lange Bärte oder das Tragen des Kaftans waren verboten, völlig undenkbar, am Schabbat nicht zu arbeiten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als auszuwandern - oder sich anzupassen.
Orgeln als Symbol der Anpassung
Anpassen, das war schon einmal ein Thema gewesen: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog sich in Arad eine Spaltung der jüdischen Gemeinschaft. Eine Strömung, die aus Westeuropa herübergeschwappt war, hatte dort Fuß gefasst. Bald erreichte sie auch Temeswar. Während sich die orthodoxen Juden nach wie vor strikt an alte Riten und Regeln gebunden fühlten, befanden die sogenannten Neologen, es sei an der Zeit für eine Modernisierung - für eine bessere Integration in die Gesellschaft. Fortan existierten beide Gruppen getrennt, jede mit eigenen Gotteshäusern.
Die Neologen nutzten die Synagoge in der Innenstadt von Temeswar, 1863 bis 1865 erbaut, die derzeit restauriert wird. Doch woran erkennt man eine neologe Synagoge? Ganz sicher am Vorhandensein einer Orgel, die in orthodoxen Gotteshäusern fehlt. Denn Orgelmusik gehörte zu den Neuerungen, die sich die reformierten Juden vom Christentum abgeguckt hatten. Inspiriert von dessen Kirchenmusik begannen sie, eigene Stücke für ihre Gottesdienste zu komponieren. Die 1899 erbaute Orgel der Synagoge in der Innenstadt kann sich sehen lassen: Wie auch die Orgel der Synagoge der Fabrikstadt stammt sie aus der Werkstatt des Wiener Orgelbauers Carl Leopold Wegenstein, der sich 1880 in Temeswar niedergelassen hatte. Weitere Wegenstein-Orgeln gibt es in neun Kirchen der Stadt, römisch-katholisch, ungarisch reformiert und evangelisch.
Die Rechnung der Neologen ging auf: Die Anhänger der neuen Strömung integrierten sich erfolgreich in die Gesellschaft, viele besuchten Universitäten im Ausland - in Budapest, Prag, Deutschland oder der Schweiz, kamen zu Wohlstand und trugen entscheidend zur Entwicklung der Stadt bei. Sie waren Fabrikanten, Händler, Hutmacher, Professoren, Architekten, Ärzte, Rechtsanwälte. In der Zwischenkriegszeit bildeten sie die mittlere Gesellschaftsschicht. Sie hielten Druckereien oder Manufakturen zur Verarbeitung von Baumwolle, Wolle und Seide inne, gründeten Fabriken zur Herstellung von Farben, Seifen, Öl, Leder und Schuhwerk. Sie eröffneten Banken und belebten den Kommerz durch den Export von Getreide und Fellen. Bis zum Zweiten Weltkrieg befand sich die Hälfte aller Häuser der Innenstadt in jüdischem Besitz.
Die orthodoxen Juden hingegen, die in der Josefstadt lebten, waren arm und vorwiegend Handwerker.
Blütezeit und Abenddämmerung
Hinweise auf die Anwesenheit von Juden im Banat gibt es seit dem zweiten Jahrhundert. Konkrete Beweise für das Vorhandensein jüdischer Händler liegen jedoch erst aus dem 13. und 16. Jahrhundert vor. Der älteste Grabstein auf dem alten Friedhof der Sepharden - den von der Iberischen Halbinsel vertriebenen Juden - datiert auf 1693. Er gehört einem Arzt und Rabbiner namens Azriel Assael, der über Thessaloniki eingewandert war - und beweist, dass auch unter osmanischer Herrschaft Juden im Banat gelebt haben. Nach der Schlacht von Zenta 1698, in der Prinz Eugen von Savoyen die Türken zurückgeschlagen hatte, zählte man in Temeswar 144 Juden.
Zur Zeit der Habsburger unterlagen die Juden im Banat strengen Auflagen. Sie durften keine Landwirtschaft betreiben, gewisse Berufe blieben ihnen verschlossen. Temeswars Straßen, hieß es, wurden von den Gebühren gepflastert, die Juden für Dokumente, die ihnen die Staatsbürgerschaft attestierten, bezahlen mussten. In der Innenstadt war ihnen nur tagsüber die Nutzung des relativ kleinen „Judenplatzes“ erlaubt. Am Abend mussten sie - und übrigens auch die Rumänen - die Stadtmauern verlassen.
Ihre Blütezeit erlebte die jüdische Gemeinschaft von Temeswar nach 1860, was sich im Bau von insgesamt sechs Synagogen reflektiert, von denen heute noch drei existieren.
1872 besuchte Kaiser Franz Josef die Juden in Temeswar und erklärte sie zu freien Bürgern. Seitdem durften Synagogen erstmals auch von außen als Gotteshäuser erkennbar sein. Zwei große neologe Gotteshäuser entstanden zwischen 1863 und 1864 in der Innenstadt, eines 1899 in der Fabrikstadt. 1906-1910 wurde die orthodoxe Synagoge in der Josefstadt gebaut.
Ende des 19. Jahrhunderts bildeten die Juden bereits acht Prozent der Stadtbevölkerung. Nach dem Ersten Weltkrieg waren es zehn Prozent – je nach Quelle ungefähr 12.000 bis 13.000 Menschen.
Den Zweiten Weltkrieg überlebten mit viel Glück fast 99 Prozent der Juden im Kreis Temesch/Timi{. Dies verdanken sie einer Fürsprache von Königinmutter Elena bei General Ion Antonescu: Sie hatte darum gebeten, die Massendeportationen zu vertagen. Später, nach der Niederlage von Stalingrad und der Abkehr Rumäniens von Deutschland, kam es dann nicht mehr dazu. Allerdings wurden 2833 Juden bis 1943 in Arbeitslager gesteckt oder nach Transnistrien deportiert.
Während des Kommnuismus und nach der Revolution wanderte die Mehrzahl der Juden dennoch aus. Heute zählt die Gemeinschaft im Kreis Temesch noch etwa 500 Mitglieder, erfreut sich jedoch eines regen kulturellen Lebens. Ihre Synagogen sind zu gastfreundlichen Orten kultureller Veranstaltungen geworden, auch Touristen sind willkommen.
Auf jüdischen Spuren durch die Stadt
Vor allem Besucher aus Israel wandeln auf den Spuren der Juden in Temeswar. Ihre Route umfasst die drei Synagogen – die in der Innenstadt, die derzeit restauriert wird, aber besucht werden kann, die in der Fabriksstadt, für 35 Jahre an das Temeswarer Nationaltheater verpachtet, beide sind entweiht, und die in der Josefstadt, die als einzige noch für Gottesdienste genutzt wird.
Ein Muss ist für sie auch der jüdische Friedhof in der Calea Lipovei, der sich über sieben Hektar erstreckt und 16.000 Gräber umfasst. Beliebteste Ziele sind dort das älteste Grab aus osmanischer Zeit, aber auch das Mausoleum von Rabbi Oppenheimer Zwi Hirsch (1821-1859),„Rabbi Herschele Temeswarer“ genannt, einer europaweit anerkannten Persönlichkeit. Nach seinem Tode schrieb man ihm wundertätige Kräfte zu. Wer zufällig durch die Strada Dr. Ernest Neumann schlendern sollte – nicht, dass dort etwas Besonderes zu sehen wäre – möge zumindest wissen, dass sie an einen berühmten Rabbiner erinnert. Dr. Ernest Neumann kam 1941 aus Budapest nach Temeswar, diente in der Synagoge der Fabrikstadt und stieg schnell zum ersten Rabbiner der neologen Gemeinschaft auf. Bekannt wurde er vor allem für seine interreligiösen Treffen, an deren Basis eine Freundschaft mit dem Metropoliten des Banats, Dr. Nicolae Corneanu, stand. Neumann galt auch als überzeugter Vertreter der Ökumene.
Zeitsprung. Oktober 2017: Über die Reste des Blechdachs hinwegsteigend treten wir auf die Straße. Die Fotos im Kasten – sie finden sich später nicht in der Ausstellung „Tempel und Synagogen in Rumänien“ wieder, für die George Dumitriu damals fotografierte und die im November 2017 im Patriarchenpalast eröffnet und auch zum Anlass des Festivals „Shalom Ierusalim“ gezeigt wurde, das 2018 in Bukarest und 2019 in Temeswar stattfand. Doch sind die Spuren von Sturm und Regen getilgt, die Synagoge in der Josefstadt „lebt“ weiter. Die im Schwinden begriffene jüdische Gemeinschaft versucht, auch für die Nachwelt zu bewahren, was von ihrer Kultur übrig geblieben ist: 86 Tempel und Synagogen im ganzen Land – vor dem Zweiten Weltkrieg waren es über 1400. Einige mit Orgeln, immer weniger mit Tora - die gibt es nur noch dort, wo auch Gottesdienste gefeiert werden.