Reisen bildet, wenn man sich darauf einlässt

Das Rumänien von Joscha Remus und Matei Vișniec

Mit ihren 37 Büchern deckt die „KulturSchock“-Reihe des Reise-Know-How-Verlages den gesamten Erdball ab. Die geopolitisch veränderte Weltsituation dürfte den Reiseführer für Afghanistan jedoch vorerst außen vor lassen. Das Rumänien-Cover dagegen bietet einen Blick in die Grabkreuz-Werkstatt des „Fröhlichen Friedhofs“ von Săpânța. | Foto: www.reise-know-how.de

Einer von vielen Erwachsenen in Rumänien, die das Heft selbst in die Hand nehmen und für den erhofften Sozialstaat von morgen in Vorleistung gehen: Ex-Trompeter Samuel Tatu in der Küche seines Bistros „Consommé“ in Hermannstadt/Sibiu. Es gibt aber auch den anderen Blick aufs Leben... | Foto: der Verfasser

...wie zum Beispiel den dieses alten Mannes. Er hat bestimmt eine andere Geschichte als der Koch zu erzählen. Unwichtig, wer von beiden den anderen übertrumpft. In einem gesunden Staat haben alle die Chance, sich zu äußern. | Foto: www.pixabay.com

„Jede Kultur ist anders, aber niemals falsch.“ Der Gründer und die Mitarbeiter der fast 50 Jahre alten Reiseführer-Reihe „Globetrotter schreiben für Globetrotter“ wussten schon in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, worauf es unterwegs ankommt. Sich auf etwas anfänglich Fremdes einlassen, womit man daheim nicht in Kontakt gerät, erfordert schließlich im Idealfall weitaus mehr Raffinessen als nur Routine im Anwenden diplomatischer Usancen. Weltenbummler Peter Rump aus der Bundesrepublik Deutschland und das eng um ihn versammelte Kernteam des zuvor genannten  freien Selbstverlages einigten sich 1985 in Bielefeld auf die Statuten der unabhängigen Reise Know-How Verlag Peter Rump GmbH. Der zu Offenheit mahnende Aphorismus ist außerdem nicht das einzige Zitat aus unbekannter Feder auf der Verlags-Homepage. Denn ebendort findet sich auch der Willkommensreim „Reise mit Lust, doch reise bewusst – die Welt lädt dich ein, doch ist sie nicht dein.“

„KulturSchock“ heißt eine von vierzehn Buchreihen und Karten in der Offerte dieser Verlags-GmbH. Sie liest sich wie ein ganz leicht zu öffnender, aber über-haupt nicht einfach zu erfassender Katalog einer Schulklasse, in der alle Eigenheiten von brav bis frotzelnd und von kühler Betrachtung aus sicherer Entfernung bis zu unerwartet einnehmender Begeisterung vertreten sind. Klassisch unfehlbare Angebote wie „Reiseführer“, „Wanderführer“, „Stadtführer“ und „Sachbücher“ können hier studiert und gewählt werden, doch wer das nicht ausreichend verheißungsvoll findet, kommt beim Tippen auf eine oder mehrere der Rubriken „Kauderwelsch Sprachführer“, „Edition RKH“ und „ReiseSplitter“ bestimmt noch vor Reiseantritt in heißes Schwärmen. Dass der Reise-Know-How-Verlag das Ziel Rumänien hauptsächlich in der Kategorie „KulturSchock“ verortet, schlägt nicht fehl.

Joscha Remus kennt Rumänien seit zig Jahren und hat es 2006 zum ersten Mal für den unabhängigen Bielefelder Reiseverlag schwarz und bunt auf Hunderten Blättern in Taschenbuchgröße vorgestellt.  24,90 Euro kostet sein 696 Seiten zählender allgemeiner Rumänien-Reiseführer, den Mirko Kaupat noch im vergangenen Jahr für die 6. Auflage aktualisiert hat. Nicht, dass dieses klassische Handbuch nebst all dem Positiven keine polarisierenden Informationen über den Staat und das Land der Herren Dracula und Dragnea bietet – aber für alle, die es wirklich unverblümt erleben wollen, spricht der „KulturSchock“-Reiseführer richtig Tacheles. Er ist zwar kaum halb so dick wie die klassische Variante und auch um zehn Euro billiger, jedoch von einem Autor geschrieben, der das Rumänien abseits von Ceaușescu, Iliescu, Constantinescu und Johannis tief zu beschreiben und voll dafür zu begeistern vermag. Sogar für Einheimische und Staatsbürger, die glauben, ihr Rumänien längst in- und auswendig zu kennen, fällt in diesem Büchlein etwas ab. Obwohl nicht als ein Nachschlagewerk auf den Markt gekommen, eignet es sich gerade auch dafür.

So eine Drucksache ist in Zeiten und Welten wie gerade jetzt eben auch tatsächlich nicht kommentarlos zu verabscheuen. Denn wo der globale Informations-Dschungel bereits in Europa Wurzeln zu schlagen beginnt, tut es gut, im wachsenden Chaos bei Bedarf eine unparteiische Orientierungshilfe parat zu haben. Genau so etwas hat Joscha Remus erstellt: „Menschen neigen zur Vereinfachung. Das ist kein Wunder angesichts einer komplexer werdenden Welt. So manchem rutschen da aufgrund der Informationsüberflutung oder aus Unkenntnis auch schon einmal ganze Länder ins Klischee ab.“

Wo Joscha Remus als Journalist für große Häuser wie „Die Zeit“, die „Süddeutsche Zeitung“, den Südwestrundfunk (SWR) oder den Piper-Verlag arbeitet, 2008 vom Rumänischen Kulturinstitut (ICR) einen Förderpreis für eine „Lesereise Rumänien“ im Picus-Verlag erhalten hat und sein Vater aus der Bukowina stammt, ist er als Autor des „KulturSchock“-Reiseführers Rumänien über jeden noch so spitzfindigen Zweifel erhaben. Die Auszeichnung durch eine Behörde Rumäniens wurde ihm doch immerhin zur Amtszeit von Horia-Roman Patapievici im Chefsessel des ICR zuerkannt. Dem Land der Hauptstadt Bukarest gehen die Binnenkritiker nicht ab, auch wenn Patapievici 2012 dem intern von Victor Ponta erhöhten Druck nachgab und letztlich das Handtuch warf. Dass Rumänien und seine kritikfähigen Eliten heute einander immer weniger zu vertrauen bereit scheinen, rührt nicht von ungefähr. Trotzdem läuft der Laden irgendwie. Joscha Remus stellt klar fest, wo es noch hapert, lässt jedoch niemanden verachtend auflaufen. Ein Kulturschock soll ja schlussendlich dem Verständnis aufhelfen statt der Erniedrigung nützen.

Er hakt nach im Interview mit dem orthodoxen Patriarchen Daniel, ohne ihn zu beleidigen. Und erhält, noch bevor er ihn dazu befragt, von Mircea Cărtărescu zur Antwort, dass „die Rumänen nicht viel lesen, und schon gar keine dicken Bücher.“ Joscha Remus zufolge besteht nicht der geringste Zweifel, dass „Rumänien demografisch schon im Westen angekommen ist.“ Was ihn und die Leser seines Reiseführers aber nicht über die schwer berührungsempfindliche Beziehung der unbedarften Massen zu ihrem eigenen Heimatland und schon gar nicht über die innergesellschaftliche Spaltung im chronisch kranken Sozialstaat Rumänien hinwegtäuscht. Als einer, der das Land schon seit dem letzten Lebensjahrzehnt Ceaușescus bereist, führt Joscha Remus im Reiseführer viele der Sprichwörter Rumäniens an.

Einige jedoch gehen ihm nichtsdestotrotz durch die Lappen. Oder ist so eines wie das „După mine, potopul!“ (Hinter mir die Sintflut) gar so verächtlich, dass man es nicht einmal den schärfsten unter den Binnenkritikern seines Freundeskreises zumuten kann? Am Beispiel der horrenden Monatsgebühren für Privatkindergärten zeigt dieser „Kulturschock“, dass nicht allein die immer noch weit verbreitete Armut, der hohe Lebensstandard der Eliten oder etwa die aufklaffende Differenz zwischen beidem, sondern eine oft satte Portion Egoismus in den Reihen der Gutsituierten das ist, was erst richtig schockt. Frei nach dem Motto halt, „für mein Kind nur das Beste“…

Die Rolle als externer Kritiker mit zielgerichtetem Blick auf Interna spielt Joscha Remus mit gebotenem Respekt eines Außenstehenden. Den letzten Vorstoß zum harten Kern mancher der Dauerprobleme Rumäniens überlässt er anderen. Bezeichnend, dass die Bukowina in diesem Punkt als eine zufällige Referenzregion gewählt werden kann. Joscha Remus nähert sich ihr von draußen, hat aber dennoch eine biografische Anbindung an sie. Größeren Spielraum haben da nur noch Autoren wie Journalist und Dramaturg Matei Vișniec, der selbst in der Bukowina geboren wurde, sie aber 1987 verlassen hat und beides, sprich den Blick des Einheimischen und auch den des Externen, in sich vereint. „Ne-am întoarce definitiv dacă am avea ce face în România“ - „wir würden definitiv zurückkehren, wenn wir etwas in Rumänien zu tun hätten“, setzte Matei Vișniec im August 2019 an den Anfang seiner Kolumne für die „Dilema Veche“. Um nur ein paar Absätze weiter unten davon zu erzählen, dass seine Heimatstadt Rădăuți sich selbst in ebendiesem Monat nicht mehr wiedererkennt. Die übervollen Parkplätze und Einkaufswagen der Supermärkte sprächen Bände.

An diesem Punkt gestehe ich gerne, noch nie die Bukowina bereist zu haben. Der Wunschaufenthalt dort ist mir ein Traum, für dessen Erfüllung auf beste Konditionen gepasst sein will. Seit dem zitierten Text von Matei Vișniec weiß ich, dass es ausgeschlossen ist, dieses einmalig schöne Nordostrumänien im August zu besuchen. Was ich antreffen möchte, ist nicht unbedingt der materielle Wohlstand, den zahllose Einheimische von draußen hereinbringen, sondern just das Rumänien, wofür Joscha Remus im „Kulturschock“ des Reise-Know-How-Verlags wirbt. „Es gleicht einer Zwiebel: Wenn man begonnen hat, die braune Schale der Klischees zu entfernen, zeigt sich eine neue, tiefere Schicht. Rumänien ist kein Land für Express-Reisende. Die Menschen wollen, dass man ihnen begegnet, suchen das Gespräch und den Austausch.“