ADZ-Reihe Wertvolle Jugendbücher: Die Grenzen sprengen

„Tanz der Tiefseequalle“, Stefanie Höfler, Gulliver Verlag, ausgeliehen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Bukarest, Calea Dorobanți 32/Pavilion, www.goethe.de/bukarest


Es gibt Menschen, die über sich hinauswachsen. Manchmal ist es das Äußere: der Körper, der die gewohnten Formen verlässt, dreist über den Hosenbund schwappt, sich aufbläht wie ein Michelin-Männchen, schwer auf die Waage drückt und kreischt: Ätsch - von nun an bist du ein Mobbing-Opfer! Manchmal ist es das Innere: Es verweist das Äußere in die Schranken. Du kannst mich mal, ich hab andere Werte! Ich fordere das Glück heraus, nicht obwohl ich so bin, wie ich bin, sondern weil...

An diesen Punkt kommt Nico, als er Sera kennenlernt: das schönste Mädchen der Klasse. Und er lernt eine andere Sera kennen, als die, die die anderen sehen, die Sera mit den hüftlangen Haaren, den rehbraunen Augen, das vielleicht oberflächliche, aber exotisch faszinierende Mädchen mit den ägyptischen Wurzeln, das sicher mit Marco, dem selbstbewussten, allseits bewunderten Alphajungen der Klasse, ein Traumpaar abgeben würde. Denkt anfangs manchmal auch Sera. Sicher ist sie sich nicht. Will sie wirklich schon einen Freund? Hofft sie auch, wie alle anderen Mädchen, auf dieser Klassenfahrt auf den ersten Kuss? Tatsächlich scheint Marco auch von ihr fasziniert zu sein. Ein wenig zu sehr, merkt Sera schnell, und auf einmal nutzt Marco den Augenblick zu einer dreisten Grapsch-Attacke! Wer sie rettet ist ausgerechnet Nico: Klassengespött, Mobbingopfer, Walrossfigur. 

Eigentlich möchte ihm Sera nur kurz Danke sagen, als sie ihn auf der abendlichen Tanzparty im Gedränge sucht. Bis sie merkt, dass es kein Zufall ist, dass heute abend niemand mit ihr tanzen will. Was Marco wohl über sie erzählt hat? Selbst ihre beste Freundin Melinda, im Stehblues dicht an Marco gepresst, schaut sie mit zusammengekniffenen Augen an. Trotzig fordert Sera Nico zum Tanzen auf, der ebenfalls allein am Rand steht. Doch da geht die Lawine erst so richtig los... 

Sera ist an Mobbing nicht gewöhnt, denkt Nico ein wenig besorgt. Im Gegensatz zu ihm. Etwas unentschlossen stehen sie dann draußen vor der Tür. Nur weg hier, denkt Sera und sagt es laut. Sie schnappen sich jeder eine Wolldecke und laufen hinaus in die kühle Nacht. Fort von den Blicken der beschränkten Klassenkameraden und Lehrer. Hinaus ins Abenteuer! Über sich selbst hinaus.

Sie laufen und reden, sie schlafen im freien Feld, sie stehlen Eis an der Tanke, sie blödeln auf dem Spielplatz herum, bis Nico von der gerissenen Schaukel krachend zu Boden fällt und einfach lachend liegen bleibt. Über sich selber lacht! Staunend entdeckt Sera einen ganz anderen Nico. Einen unter dieser Michelinmännchschale, die ihm als Schutzpanzer dient. Und Nico eine andere Sera: alles andere als oberflächlich, statt dessen mit abenteuerlustigem Glitzern in den Augen. Wie man sich doch täuschen kann! Sie schalten ihre Handys aus und laufen weiter. Bald wird dieses Abenteuer ohnehin vorbei sein, und dann gibt’s nichts mehr zu Lachen... 

Und dann, wenn alles wieder normal ist: Wird Sera dann noch mit mir reden, fragt sich Nico, oder wird alles wie früher? 

Doch das neue Ich passt nicht mehr in die alte Hülle. Um dies zu erkennen, wird Nico bald auf einen Baum klettern und Sera in einen Moorsee springen, doch bis dahin ist es noch ein ganz schönes Wegstück, auf dem Marco und Nico aneinander geraten – oh Gott, nicht schon wieder Mobbing!, denkt Sera, denkt ihr Bruder Farid, denkt Lenni aus ihrer Klasse... – und Nico wieder einmal über sich hinauswächst...

Ja, Nico weiß, wie er aussieht. Ob er es ändern möchte? Jetzt vielleicht nicht mehr, sagt er. Denn was er in den letzten Tagen mit Sera erlebt hat, geschah nicht, obwohl er so ist wie er ist. Sondern weil!


Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.