Es ist nicht zu übersehen, dass Verena nicht bloß leidende und hoffende Mittelpunktfigur des Romangeschehens ist, sondern dessen eigentlicher „Motor“. Mit der rätselhaften Peregrina und der bildhübschen Barbara, der unglücklichen Verlobten eines Hotzenwälders, der sich vor Jahren allein auf den Weg ins Banat gemacht hat, rücken weitere tatkräftige Frauengestalten ins Handlungsgefüge und vorübergehend in den Vordergrund. Überhaupt scheint Gerda von Kries eine Präferenz für tapfere, selbstständig handelnde Frauengestalten zu haben. Sie erweitert dadurch den Facettenreichtum ihrer Erzählung, bezieht unterschiedliche Lebensbereiche der Hotzenwälder und differenzierte Haltungen zur Auswanderung in ihren Roman mit ein.
Allen voran ist Peregrina, die unstete Wandererin – der Name bedeutet auch Reisende, Pilgerin und Fremde -, Verena zugetan. Sie hat auf ihren Wanderungen, die sie aus eigener Kraft, begleitet von ihrem halbwüchsigen Bub, unternahm, reiche Lebenserfahrung und Menschenkenntnis erworben und wird von der Erzählerin mit großer Sympathie geschildert:
Wiewohl sie keine gebürtige Hauensteinerin (also Hotzenwälderin, Anm. W.E.) war, sondern aus dem Unterland stammte und die leichte Gemütsart des Pfälzers besaß, war sie seit Jahren im Schwarzwald beheimatet, soweit man dies von der Heimatlosen sagen konnte, und hatte sich auch die Mundart der Alemannen angewöhnt. Sie betrieb einen Handel mit Glaswaren, wanderte von den Glashütten der Schluchseewälder, wo sie ihre Waren bezog, alle Nord- und Südtäler hinauf und hinab, von der Markgrafschaft Baden ins Vorderösterreichische, oftmals über den Rhein in die Schweiz, und überall war sie wegen ihres munteren Wesens gern gesehen. (Gerda von Kries)
Peregrina steht Verena bei der Geburt ihres sechsten Kindes, der Anna Maria bei und pflegt sie, bis sie sich selber helfen kann. Auch bei den Vorbereitungen auf die große Reise ist sie Verenas Familie eine hilfreiche Stütze. Es sollte nicht ihre letzte Hilfe gewesen sein.
Das Auswanderungsfieber durchrüttelte und zerriss manche Familie auf dem Hotzenwald. Aufschlussreich dafür ist das Kapitel „Die Gant“, die Versteigerung des gesamten Eigentums oder einfach der Habseligkeiten, um die Reisekosten tragen zu können, ist mit Auflösungserscheinungen verbunden: Streit und Spannungen zwischen Eltern und Kindern, wobei alte Wunden aufbrechen; Versuche von Nachbarn und Fremden, sich Vorteile aus der Ersteigerung zu verschaffen, sowie der Jammer des Abschieds werden hier einprägsam beschrieben. (Auf anderer Zeitebene und in anderer Form haben die Banater Spätaussiedler den Verlust ihres schon geschrumpften Erbes bei der „Rücksiedlung“ nach Deutschland erlebt!)
Farbenfroh und phantasievoll wird die Schifffahrt auf der Donau Richtung Banat geschildert im Kapitel „G´schichten und Geschichte“, in dem sich Abenteuerliches mit historischen Fakten abwechselt, sowie im Abschnitt „Monika tanzt“, der die aufwühlende Begegnung des Mädchens und anderer jugendlicher Auswanderer mit ihnen so fremdartigen Zigeunern nahezu märchenhaft abbildet und den Freiheitsgedanken aufgreift, der mit dem bald erreichten „Neuen Land“ verbunden ist.
Die Ankunft im Banat steht bevor und, wie es scheint, steht das Ereignis auch unter einem guten Stern, denn die Begeisterung der Ankommenden kennt keine Grenzen. Dies verdient ein ausführlicheres Zitat, zumal in dieser Episode die eigentümliche, zuweilen idealisierende, aber doch glaubwürdige Emotionalität der Erzählweise Gerda von Kries´ besonders deutlich zu erkennen ist. Dass allerdings zu jener Zeit (1766) entlang des Begakanals noch keine blühenden deutschen Siedlungen bestanden und die Äcker und Viehherden deutlich bescheidener waren, als hier beschrieben, soll nicht verschwiegen werden:
Der letzte Tag der Reise war angebrochen, fieberhafte Spannung hatte sich der Kolonisten bemächtigt. Sie hatten die Donau verlassen, waren eine kurze Strecke die Theiß aufwärts geschifft bis Titel und wurden jetzt auf dem Begakanal von Pferden die Strömung hinaufgezogen …
Der Abendhimmel leuchtete in verhaltener Glut, die weite Ebene war in Gold getaucht. Ein Farbenspiel von tiefem Violett zum Blau und zartesten Rosa überstrahlte den westlichen Horizont. Was aber an den Ufern sich zeigte, das ließ die Ankömmlinge vollends verstummen.
An Stelle der ungeheuren Öde, die sie seit Wochen und Tagen erschaut hatten, zeigten sich ihnen zwischen Gestrüpp und Grasland fruchtbare Gefilde, grüne bebaute Fluren, Kornfelder, Obstgärten, Weinberge breiteten sich da und dort zu beiden Seiten des Kanals, unübersehbare Weizenfelder und Maisanpflanzungen, die bis zu doppelter Mannshöhe herangewachsen waren und deren schwere Kolben sich abwärts neigten. Große Herden von Schafen, Rindern, Ziegen weideten auf dem Grasland, vereinzelte Ortschaften zogen an den Staunenden vorüber …
Dörfer mit weißen Häusern, schnurgeraden Gassen, spitzen Kirchtürmen. Ein Freudentaumel ergriff die Ankömmlinge ob solchen Anblicks. Ohne dass einer es aussprach, wussten sie alle, das war das Werk der Ansiedler in einem halben Jahrhundert unermüdlicher, zäher Arbeit. Mit dem Austrocknen der Sümpfe, mit dem Gräbenziehen und Kanalbauten hatte es begonnen. Mit Pflügen, Roden, Steinelesen – mühseliger Kleinarbeit hatten sie ihr Werk fortgesetzt, dann war es so weit, dass sie Bäume anpflanzen, Futterkräuter. Mais und Weizen bauen konnten, dass sie sich daheim fühlten im fremden Land. (Gerda von Kries)
Fortsetzung folgt