Auf der Intensivstation der eigenen Moralversprechen

Die Mär von der Befreiung des Staates aus den Krallen seiner Entführer

Dragoș Anastasiu definiert „Überlebensschmiergeld” Foto: Grigore Popescu/Agerpres


Ilie Bolojans Kabinett ist keine drei Monate im Amt, da liegt es bereits auf der Intensivstation seiner eigenen Moralversprechen. Auslöser ist der Fall des inzwischen zurückgetretenen Vizepremiers Dragoș Anastasiu, der acht Jahre lang insgesamt 150.000 Euro an eine ANAF-Inspektorin zahlte, das Delikt später bei der DNA anzeigte, seine Reisesparte auf eine neue Firma („Travel Brands“) überschrieb und sie 2019 für rund 150 Millionen Euro an DER Touristik, die Touristiktochter des deutschen REWE-Konzerns, veräußerte. Am Ende weinte Anastasiu Krokodilstränen vor laufenden Kameras und versuchte, in der wohl schäbigsten Geste seines öffentlichen Daseins, die Schuld seinem verstorbenen Geschäftspartner in die Schuhe zu schieben. 

Vor denselben Kameras erklärte Anastasiu, in Rumänien gebe es „șpagă de supraviețuire“ (Überlebensschmiergeld) und „șpagă de îmbogățire“ (Bereicherungsschmiergeld); seines habe „nur“ dem Überleben gedient. Er habe ja Leute beschäftigt. Fazit ist aber, dass seine Firma die Sozialbeiträge der Angestellten nicht an die Staatskasse abgeführt hat, damals galt das als Straftatbestand. Anastasiu adelt den alltäglichen Bakschisch zur zwangsläufigen Geschäftsbedingung und liefert ungewollt den kulturhistorischen Subtext: Seit der osmanischen bacșiș-Praxis hat sich Bestechung hierzulande in Schichten von Gewohnheitsrecht sedimentiert, vom Dankeschön im Krankenhaus bis zum Schutzgeld für Finanzprüfer. 

Staatspräsident Nicușor Dan reagierte in Salzburg auf Journalistenfragen mit dem lapidaren Satz: „Lăsați-mă să mă informez“ – man möge ihn erst einmal sich informieren lassen. Premier Ilie Bolojan wiederum ließ seinen Sprecherinnenstab erklären, „die Entscheidung liege bei Anastasiu selbst“ – ohne eigene Bewertung. Das Vakuum an Haltung unterläuft jedes Reformpathos.

Die Sozialdemokraten erklären, „Reformen lassen sich nicht mit einem nachweislichen Bestecher betreiben“, fordern die Demission aber nicht offen, sondern schieben die Verantwortung dem Premier zu. Die Nationalpopulisten von der AUR hingegen riechen Morgenluft: Parteichef George Simion verlangte lautstark, „den Vizepremier gefälligst zu entfernen“, um „ein Minimum moralischer Hygiene“ herzustellen.

Bolojans „Schlankheitskur“ des Staates wirkt grotesk, solange zwei eigene Minister belastet bleiben:  Vizepremier Marian Neacșu (PSD) wurde 2016 rechtskräftig wegen Interessenkonflikts verurteilt, weil er seine Tochter auf Staatskosten beschäftigte, heute dirigiert er sämtliche haushaltsrelevanten Akte und soll sich mit nichts Geringerem als der Reform staatseigener Unternehmen beschäftigen. Von der er Null Ahnung haben kann, denn die bereits vorgestellten Rahmenbedingungen für diese Reform lassen ein vorprogrammiertes Fiasko erkennen. Effizienzkriterien, die für alle Staatsunternehmen gelten, unabhängig davon, ob sie auf einem funktionierenden Markt agieren oder eine Monopolstellung besitzen, oder ob sie öffentliche Güter von herausragender Bedeutung liefern oder nicht, sind keine Lösung. Genauso wie die medienwirksame Streichung von Diäten auch kein Allheilmittel ist. Der Vizepremier hat wohl andere Sorgen. Und andere Gedanken.

Dann ist da noch die große Klausenburger Hoffnung, Bildungsminister Daniel David, der ein kritisches Gutachten des dem Ministerium untergeordneten Instituts für Bildungswissenschaften kassieren und sich mit der brisanten Aussage zitieren ließ, er habe keine Gesprächspartner im Bildungwesen, denn die Gewerkschaften würden nur um den Erhalt der Privilegien der Lehrerkaste kämpfen. Als würde das Glück dieses Landes an den Privilegien der Lehrer scheitern, die – man weiß es ja – mit 48 in Rente gehen und hohe Sonderrenten einkassieren. Dabei wird mit der angeblichen Reform des Bildungswesen, der Erhöhung der Unterrichtsnorm, der Zusammenlegung von Schulen und den anderen Maßnahmen, die David angekündigt hat, dem Bildungswesen der Krieg und die Effizienz zum höchsten Wert des Systems erklärt. Im Land des grassierenden funktionalen Analphabetismus gibt es nichts Schöneres als dieser neoliberale Effizienzdrang a la roumaine.

Dabei stehen beide Namen – Neac{u vor allem, aber auch der auf Irrwegen gelangte David – sinnbildlich für die Beharrungskraft kleptokratischer Netzwerke, die sich seit Jahren um Haushaltstitel, ANRE-Posten oder EU-Töpfe rangeln. Die jetzt die Reform üben und sich hinter den Kulissen bekriegen wie selten bisher. Einige Fragen drängen sich auf: Wie konnten Präsident Dan und Premier Bolojan den vorbelasteten Anastasiu mit dem Amt des Vizepremiers betrauen? Hat sie niemand informiert? Gibt es in den zuständigen Stellen ein Loyalitätsproblem? Auf diese Fragen sollten die beiden Paläste, Cotroceni und Victoria, so bald wie möglich Antworten liefern. Zur Person gewordenen Krise wird Ioana Ene Dogioiu, Ex-Journalistin und frisch ernannte Regierungssprecherin, die Anastasiu-Affäre managte sie desaströs, zum Fiskalpaket verhedderte sie sich in Detailfragen. Gerade weil Bolojan den Sparkurs ohne öffentliche Debatte durchdrückt, wäre professionelle Erläuterung nötig; stattdessen liefert die Sprecherin Steilvorlagen für Zweifel an Regierungskompetenz.
Parallel treibt das Finanzministerium die „Gesetze der Austerität“ voran: Steuererhöhungen, Stellenabbau, Kürzungen bei Sozialleistungen. Dass derselbe Staat ein „Überlebensschmiergeld“ acht Jahre lang tolerierte und nun moralisch säuberlicher wirken will, entlarvt den Spardiskurs als technische Floskel – Finanzkorrektur ohne ethische Grundierung.

Was folgen müsste? In erster Linie, Personalkonsequenzen. Neac{u und David blockieren jede Vertrauensrevitalisierung – ihr Rücktritt ist Voraussetzung ernsthafter Selbstreinigung. Dann eine Transparenzoffensive: Vollständige Publikation der ANAF-Akten, inklusive aller politischen Interventionen. Drittens: der Bruch mit der Schutzgeld-Logik: Gesetzliche Haftungsketten, die auch „{paga de supravie]uire“ strafschärfend bewerten – denn Korruption bleibt Korruption. Und, last but not least: Ein Präsident, der führt: Nicușor Dan kann sich den Luxus der Sprachlosigkeit nicht länger leisten, will er nicht zum Protokollchef ohne Einfluss verkommen.

Die Anastasiu-Affäre ist mehr als das Fehlverhalten eines Einzelnen; sie offenbart, dass die rumänische Politik noch immer von jenen geprägt wird, die den Staat als Beute sehen. Solange Bolojan seine Reformrhetorik nicht mit glasklaren personellen Schnitten unterlegt, bleibt sein Austeritätsprojekt eine mathematische Übung – und Rumäniens Glaubwürdigkeit in Brüssel wie auf den Märkten weiter angeschlagen. Eine Republik, die Korruption nach klimatischen Kategorien einteilt, darf sich nicht wundern, wenn Investoren auch das Wort „Reform“ nur noch in Anführungszeichen verstehen.