Das „Lexikon der Siebenbürger Sachsen“, herausgegeben vom gebürtigen Kronstädter Walter Myß (1920-2008), erschienen 1993 im Wort und Welt Verlag Thaur bei Innsbruck, widmet dem Kronstädter Honterusfest einen eigenen Artikel. Darin wird über dieses Ereignis gesagt, es sei als „größtes Volksfest der Siebenbürger Sachsen bekannt“. Im Jahr 1845, anlässlich der Feier zum 300-jährigen Bestehen der Honterusschule, erstmals abgehalten, wurde aus dem ursprünglichen Schulfest mit den Jahren eine groß aufgezogene Veranstaltung, die sozusagen die gesamte Kronstädter sächsische Gemeinschaft in ihren Bann ziehen sollte.
Man weiß: Die „klassischen“ Honterusfeste (1845-1939) wurden auf der Honteruswiese, nahe der zu Kronstadt gehörenden Siedlung Noa, gefeiert – dort, wo in der kommunistischen Zeit die Berufsschulgruppe der Lkw-Werke funktionierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg, genauer: nach Stalins Tod (1953), als sich eine zeitweilige Lockerung des politischen Drucks bemerkbar machte, gab es Bemühungen, das Honterusfest wiederzubeleben, was allerdings am ursprünglichen Standort und in der traditionellen Ausformung – z.B. mit dem Festzug durch die Innere Stadt - nicht mehr möglich war. Auch das Honterusgymnasium gab es nicht mehr so, wie es jahrhundertelang existiert hatte. Ab 1948 funktionierte das „Liceul Mixt German Nr. 2“ (Deutsches gemischtes Lyzeum Nr. 2), das ab 1956 für einige Jahre (bis 1959) wieder die Schulgebäude auf dem Honterushof (Schul- und Kirchhof der Schwarzen Kirche) beziehen konnte.
In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre kam es dann tatsächlich zur Durchführung etlicher Schulfeste nach dem Vorbild der traditionellen Honterusfeste.
Über diese Episode in der Honterusfest-Geschichte gibt es allerdings nur spärliche Informationen. Verfügbare Dokumente (Fotos, schriftliche Aufzeichnungen) haben Seltenheitswert. Vor noch nicht zwei Jahren, im Sommer 2015, gab es unter an dieser Thematik interessierten Personen eine grenzüberschreitende, per E-Mail geführte Diskussion darüber, wann denn das letzte Honterusfest der 1950er Jahre stattgefunden habe: 1958 oder 1959? Die Diskussion war eigentlich überflüssig, denn zumindest über die Jahre, in denen in den 1950ern Honterusfeste abgehalten wurden, die Orte, wo sie stattfanden, und die jeweiligen Festredner findet man zuverlässige Angaben in der von Ortwin Götz erstellten Dokumentation „Honterusfeste einst in Kronstadt/Siebenbürgen und danach in Pfaffenhofen/Deutschland“, die 2008 im WaRo-Verlag, Heidelberg, erschienen ist. In diesem Buch wird auch die Festansprache („Quellenrede“) abgedruckt, die Dr. Otto Liebhart beim Honterusfest 1977 in Pfaffenhofen a. d. Ilm (Oberbayern) gehalten hat.
Dr. Otto Liebhart war in den 1950er Jahren Direktor der Deutschen Mittelschule Nr. 2 und damit Hauptinitiator und Hauptorganisator der damaligen Honterusfeste. Wer hätte folglich darüber besser Bescheid gewusst als er? In seiner Festansprache vom Jahr 1977 – Dr. Otto Liebhart (1904-1991) wurde 1959 als Schuldirektor entlassen, ging 1964 in Rente und siedelte 1973 nach Deutschland aus - heißt es (S. 100 f. der Ortwin-Götz-Dokumentation): „Als wir auch die Erlaubnis erhielten, auch das Honterusfest wieder abzuhalten - allerdings mit manchen Einschränkungen -, konnte es wieder am Honterushof beginnen (ohne die übliche Ansprache des Direktors aus dem Fenster des 1. Stocks) und auch dort enden, jedes Mal mit ‚Siebenbürgen, Land des Segens…‘. Statt der Blasia des Coetus Mercurii musizierten 2 Blaskapellen aus Burzenländer Gemeinden, die freiwillig auch zum Tanz während des Festes aufspielten. 1955 fand das Honterusfest auf der Rabenspitze statt, und in den drei folgenden Jahren auf dem Kleinen Hangestein. Alle deutschen Schulen Kronstadts waren dabei, und natürlich auch die Eltern. Nach der Eröffnungsansprache des Direktors folgten turnerische Vorführungen der großen Schüler und Schülerinnen und lustige Spiele aller Art für die Kleinen. Statt der üblichen ‚Quellenrede‘ - da es keine Quelle gab - lauschte die Menge, am Berghang gelagert, den Ansprachen der Festredner. Diese waren: im Jahre 1956 Hans Bergel, 1957 Erwin Wittstock und 1958 Schulinspektor Hans Hermannstädter.“
Ergänzen muss man diese Angaben dahingehend, dass Schuldirektor Dr. Otto Liebhart die Festansprache 1955 selbst gehalten hatte.
Von den Festansprachen („Quellenreden“) der 1950er Jahre hat sich offenbar bloß jene von Erwin Wittstock erhalten. Sie wurde in der erwähnten Ortwin-Götz-Dokumentation abgedruckt.
Ein weiteres, unserer Meinung nach sehr aufschlussreiches Dokument über die Honterusfeste der 1950er Jahre hat ebenfalls Dr. Otto Liebhart zum Verfasser. Es handelt sich um die Begrüßungsansprache, die der Schuldirektor zu Beginn des Honterusfestes 1957 auf dem Kleinen Hangestein gehalten hat. Diese Ansprache ist bereits einmal in der „Neuen Kronstädter Zeitung“ (München) veröffentlicht worden (Folge 3/1. Juli 1987, S. 4), aber inzwischen in Vergessenheit geraten und auch in die Honterusfeste-Dokumentation von Ortwin Götz nicht aufgenommen worden. Wir drucken sie im Folgenden vollinhaltlich ab, und zwar - der Authentizität zuliebe - aus dem Original-Typoskript, das uns Hans Otto Liebhart (Baindt, Deutschland), der Sohn von Dr. Otto Liebhart, freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat:
Liebe Schüler und Kollegen, verehrte Eltern und Gäste!
Vor 2 Jahren – also 1955 – haben wir begonnen, mit oberbehördlicher Erlaubnis Honterusfeste wieder abzuhalten, von denen das letzte bekanntlich im Juni 1939 vor Ausbruch des II. Weltkrieges auf dem Honterusplatz (bei den Steagul-Roşu-Werken) stattgefunden hat. Da jene historische Wiese mittlerweile verbaut worden ist, waren wir auf der Suche nach einem andern, geeigneten Platz.
Wir fanden ihn auf der Waldwiese unter der Rabenspitze, die den Vorteil besaß, eine Quelle in der Nähe zu haben. 1956 waren wir gezwungen, uns nach einem andern Festplatz umzusehen, da jene Waldwiese vom Forstamt gesperrt worden war. Am geeignetsten erschien uns der Hangestein, auf dem nachweislich auch in der Vergangenheit Schulfeste abgehalten wurden. Ab nächstem Jahr wird unser Deutsches Lyzeum wieder den alten Namen ‚Honterusschule‘ bekommen, so dass auch unsere Schulfeste mit Recht wieder ‚Honterusfeste‘ heißen werden...
Von Jahr zu Jahr erfreut sich unser Schulfest eines stetig größeren Besuchs seitens der deutschen Bevölkerung unserer Stadt. Dazu kommt, dass wir ab heuer die Grundschulen Nr.4 (Innere Stadt), Nr.10 (Martinsberg) und Nr.13 (Bartholomä) auch zu unserem Fest eingeladen haben, und ich gebe meiner großen Freude Ausdruck, dass sie so zahlreich unserer Einladung Folge geleistet haben. (Beifall)
Das 1. Honterusfest fand nachweislich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts - genau 1845 - statt, und der Chronist berichtet 1847 u.a., dass die Adjuvantenkapelle von Zeiden daran teilgenommen hat. Wir ersehen daraus, dass es schon vor einem Jahrhundert eine kulturelle Verbindung zwischen Stadt und Land bei Volksfesten gegeben hat. In bewusster Weiterführung gesunder Traditionen luden wir heuer die Blasmusik von Honigberg unter Leitung von Schuldirektor Zerbes ein, unser Fest zu verschönen. Wir begrüßen auch die Blaskapelle der Kautschukfabrik, die, zumeist aus Sachsen bestehend, sich freiwillig angetragen hat, unentgeltlich zu musizieren (Beifall) ... Ich begrüße auch die Absolventen früherer Jahrgänge und die Mitglieder des sehr aktiven Elternrates unter dem rührigen Vorsitzenden Gen. Friedrich Pillmann, der die leidige Wasserfrage dadurch gelöst hat, indem er große Fässer Wasser mit Traktoren auf den Hangestein transportieren ließ. Ich schließe mit dem Anfang des Liedes: „Heil Honterus, preist ihn alle...“
P.S. Obige Begrüßungsansprache hielt ich am Morgen nach der Ankunft auf dem Hangestein, während die Festrede des Dichters Dr. Erwin Wittstock um 11 Uhr 30 stattfand und begeisterten Beifall bekam. Leider besitze ich den Text nicht.
Diese Begrüßungsansprache, deren Typoskript vom Verfasser handschriftlich unterzeichnet ist, klärt u.a. ein wichtiges Detail bezüglich des Honterusfestes von 1955. In der vorhandenen Literatur heißt es, dieses erste Honterusfest nach dem Zweiten Weltkrieg habe auf der Rabenspitze stattgefunden. Der Verfasser dieser Zeilen hat diese Angabe immer mit einer gehörigen Portion Skepsis zur Kenntnis genommen. Er, der auch heute noch, anlässlich von Spaziergängen, diesen Ort gelegentlich aufsucht (zuletzt geschehen am 1. Mai d.J.), hat sich von Anfang an gefragt, wie auf so engem Raum, den die Rabenspitze eben bietet, ein Volksfest abgehalten werden kann. Aus der Begrüßungsansprache von Dr. Otto Liebhart vom Jahr 1957 geht eindeutig hervor, dass die übliche Ortsangabe für das Honterusfest von 1955 – „auf der Rabenspitze“ – nicht zutrifft. Dieses Fest wurde „auf der Waldwiese unter der Rabenspitze“ abgehalten. Wer diese Waldwiese heute aufsuchen will, wird sie aber nicht mehr finden. Sie ist, nimmt der Verfasser dieser Zeilen an, teils durch Jungholz verwaldet, teils der neuen Schuleraustraße, die 1962-1965 gebaut wurde, zum Opfer gefallen.
(Fortsetzung folgt)