Am Donnerstag und am Freitag der vergangenen Woche war im Bukarester Athenäum ein Werk zu hören, das zu den Höhepunkten sinfonischen Schaffens überhaupt zählt: Anton Bruckners 7. Sinfonie in E-Dur. Die beiden Aufführungen des abendfüllenden Werkes waren dem Andenken des langjährigen Konzertmeisters des Orchesters der Philharmonie „George Enescu“, Dan Enășescu, gewidmet. Orchesterleiter der beiden Gedenkkonzerte war Camil Marinescu, seit 2012 Hauptdirigent der Philharmonie „George Enescu“, der vom Bukarester Publikum vor allem für seine Bruckner- und Mahler-Interpretationen geschätzt und geliebt wird.
Bruckners Siebente, jene außergewöhnliche Sinfonie, die dem österreichischen Komponisten nicht nur die lange vermisste Anerkennung einbrachte, sondern darüber hinaus zu einem echten Welterfolg wurde, entstand in den Jahren 1881 bis 1883 und wurde am vorletzten Tag des Jahres 1884 im Leipziger Stadttheater mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter Arthur Nikisch uraufgeführt. Arthur Nikisch war es auch, der den Leipzigern diese Sinfonie damals in Werkeinführungen näher brachte und so maßgeblich zum Siegeszug des Werkes durch Eu-ropa und bis nach Übersee beitrug. In nicht wenigen Konzerthäusern dieser Welt gibt es auch heute solche Werkeinführungen, die das Verständnis vor allem – aber nicht nur – moderner Musik beim Publikum wecken und fördern sollen, eine Idee, der sich die Direktion der Philharmonie „George Enescu“ durchaus auch einmal annehmen könnte.
Die Aufführung eines solchen monumentalen Opus, das im Rahmen eines Konzertprogramms in der Regel nicht mit anderen Werken kombiniert wird, sondern als Solitär einen ganzen Konzertabend ohne Pause und ohne Unterbrechungen bestimmt, gibt dem Dirigenten gerade deshalb auch große Freiheiten an die Hand. Das beginnt bereits mit der Wahl der Tempi. Während etwa Bruno Walter mit den New Yorker Philharmonikern im Jahre 1954 Bruckners Siebente mit einem zeitlichen Umfang von 55 Minuten zur Aufführung brachte, zelebrierte es Sergiu Celibidache mit den Münchner Philharmonikern im Jahre 1994 sage und schreibe über 79 Minuten lang. Camil Marinescu liegt dabei mit der Aufführungsdauer von knapp 75 Minuten, die seine Bruckner-Interpretation im Bukarester Athenäum in Anspruch nahm, weit über dem Durchschnitt.
Der Aufführung eines solchen Werkes unter einem Dirigenten beizuwohnen, der musikalisch einen derart langen Atem hat, ist immer ein besonderer Genuss. Im Falle der Musik Anton Bruckners ist dies umso überwältigender, als der österreichische Komponist in seinem gesamten sinfonischen Schaffen immer wieder demselben strukturellen Aufbau folgt. Aus einigen wenigen rudimentären Nuklei, basalen melodischen Tonfolgen, rhythmisch prononcierten Grundfiguren, erwächst bei Bruckner stetig fortschreitend ein dichtes und intensives Klanggebilde, das sich immer wieder in gewaltigen sinfonischen Protuberanzen entlädt, um danach wieder in den Urzustand des reinen melodischen und rhythmischen Materials zurückzusinken, aus dem sich dann von Neuem die nächste sinfonische Klanggestalt erhebt.
Bereits der Beginn von Bruckners 7. Sinfonie mit dem aus flirrendem Streichertremolo über zwei Oktaven aufsteigenden Hauptthema des ersten Satzes zeigt diese musikalische Urschöpfung, die sich in allen Sätzen der Siebenten und letztlich in allen Sinfonien Bruckners beständig wiederholt. Vor allem im zweiten und dritten Satz von Bruckners 7. Sinfonie wird dies besonders deutlich, zumal die Musik in diesen beiden Sätzen mehrmals an ihr Ende zu kommen scheint, verstummt, ins Schweigen zurücksinkt, um dann doch wieder – noch im selben Satz – von Neuem einzusetzen.
Beim Freitagskonzert kam es dabei zu einem vielsagenden Zwischenfall. Als der Klang der Instrumente in einer Generalpause des „sehr feierlichen und sehr langsamen“ Adagio-Satzes verhallte, trat nicht etwa Stille ein, sondern das unablässige Tuten eines technischen Gerätes wurde im Bukarester Athenäum plötzlich hörbar und persistierte. Für einen kurzen Augenblick brach Camil Marinescu den wunderbar getragenen Satz ab, um ihn, unter fortgesetztem Tuten besagten Gerätes, dann doch wieder aufzunehmen. Dieser Moment rief den Zuhörern im Bukarester Athenäum die unangenehme Wahrheit ins Gedächtnis, dass Musik heutzutage, wenn sie verklingt, ihren Gegenpol kaum mehr in Andacht und Stille findet, sondern stattdessen auf Zerstreuung und Lärm trifft, wobei mit Lärm gar nicht einmal lauter Krach gemeint sein muss, vielmehr eine unablässig wabernde akustische Kulisse aus piepsenden, brummenden, klingelnden und vielfältig tönenden Geräuschen von im doppelten Sinne unbeherrschten technischen Geräten.
Nach dem verhaltenen Adagio brachte das Scherzo des dritten Satzes tänzerische Bewegtheit in das sinfonische Geschehen, das in seinem bunten, entfesselten, Leben sprühenden Treiben die Entrücktheit des Adagio und die Inbrunst des Allegro moderato, wobei diese beiden getragenen und gemessenen Eingangssätze zusammengenommen bereits 50 Minuten gedauert hatten, mit einem Male vergessen machte. Der „bewegte, doch nicht zu schnelle“ Finalsatz mit seinen punktierten Rhythmen, seinen choralartig-sanglichen Passagen und seinem apotheotischen Ende im Fortissimo des gesamten Orchesters beschloss dann die beeindruckende Interpretation von Bruckners Siebenter durch die Philharmonie „George Enescu“ unter Camil Marinescu, der dieses monumentale Meisterwerk beide Male gänzlich auswendig dirigierte.
An beiden Bruckner-Abenden gedachte der Dirigent, der auch in anderen seiner Konzerte immer wieder gerne den Schlussapplaus unterbricht, um in Worten auszudrücken, was er mit der Musik sagen wollte, dann in einer kurzen Ansprache des verstorbenen Konzertmeisters der Philharmonie „George Enescu“, Dan Enășescu, den das Publikum stehend mit einer Schweigeminute ehrte. Und um auch die Lebenden zu ihrem Recht kommen zu lassen – gemäß den Versen Ingeborg Bachmanns „Aber wie Orpheus weiß ich auf der Seite des Todes das Leben“ –, ehrte Camil Marinescu an beiden Abenden außerdem einen weiteren rumänischen Künstler, der am 21. März seinen 91. Geburtstag feiern konnte: den aus Galatz/Galați gebürtigen Pianisten und Komponisten Valentin Gheorghiu. Der abschließende Dank des Dirigenten gebührte zu guter Letzt den wunderbaren Instrumentalisten der Philharmonie „George Enescu“, die die beiden Bruckner-Abende durch ihr überragendes Können zu einem unvergesslichen Erlebnis werden ließen.