In beiden Fällen hatten Pragmatismus und Freiheitsdrang den Erhalt der privilegierten Stellung der Stadt sichergestellt. Als 1688 ein habsburgisches Heer die Übergabe Coronas verlangte, entstand ein Gegensatz zwischen dem Pragmatismus des Stadtrates, der die Aussichtslosigkeit eines militärischen Widerstandes erkannt hatte, und dem Freiheitsdrang der Kronstädter Handwerker. Die Zünfte wehrten sich gewaltsam sowohl gegen die Kapitulationsabsichten der Patrizier, als auch gegen die Besetzung ihrer Stadt – letztlich erfolglos.
Die Ungnade der Habsburger bekam Kronstadt bald zu spüren, da bekanntlich die Soldaten des Kaisers nicht ganz unbeteiligt am Ausbruch des großen Stadtbrandes von 1689 waren. Am Tag nach dieser größten Katastrophe, die Kronstadt bis heute erlebte, standen nur noch die rußgeschwärzten Mauern des danach „Schwarze Kirche“ genannten Mariendomes. Damit hatte Corona zum ersten Mal nach 1421 das Schicksal seiner Vorstädte geteilt.
Obwohl Kronstadt ein Jahrhundert benötigte, um sich von diesem Schlag zu erholen, konnte es auch im frühen 18. Jahrhundert seine Position als bevölkerungsreichste Stadt der „Länder der ungarischen Krone“ – noch vor Pressburg und Ofen – halten (16.816 Einwohner im Jahr 1720). Obwohl nun zwei Jahrhunderte lang – mit Ausnahme der Revolutionsjahre 1848/49 – kriegerische Ereignisse die Stadt verschonten, wüteten Pest und Cholera auch im 18. Jahrhundert, sodass die Bevölkerungszahl stagnierte.
Im Jahr 1785 stellte sich das demografische Verhältnis zwischen den Stadtteilen folgendermaßen dar: Innere Stadt 5.000, Obere Vorstadt 6200, Altstadt (Bartholomä und Martinsberg) 3000, Blumenau 2500, Tömösch 600 und Biengärten 600 Einwohner (insgesamt 17.900 Personen). Ersichtlich wird, dass inzwischen der überwiegende Teil der Kronstädter Bevölkerung außerhalb der Stadtmauern, also in den Vorstädten lebte: In der Oberen Vorstadt wohnten mehr Menschen als in der Inneren Stadt, in der Altstadt und in der Blumenau zusammengenommen ebenfalls mehr als innerhalb der Mauern, die zunehmend ihre Verteidigungsfunktion verloren.
Die Selbstverwaltung der Stadt und des unter ihrer Führung stehenden Burzenlandes blieb bis zur ungarischen Gebietsreform von 1876 weitgehend erhalten. Erst nach der Auflösung der „Sächsischen Nationsuniversität“ im Zuge des österreichisch-ungarischen Ausgleichs von 1867 gehörte Kronstadt – so wie 600 Jahre zuvor – wieder zu einem ungarischen Komitat, nach 1918 zu einem rumänischen Kreis. Der politische Bedeutungsverlust wurde durch eine zweite wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit kompensiert. In den hundert Jahren zwischen 1840 und 1940 wurde Kronstadt – nicht nur durch seine repräsentativen Bauten – zu einer Stadt der Moderne, zu einer Stadt „der drei Völker“.
Anders als in Klausenburg und Hermannstadt besaßen in Kronstadt Deutsche, Rumänen und Ungarn einen etwa gleich starken – auch demografischen – Anteil an der Entwicklung der Stadt. Diese multiethnische Komponente und der im 19. Jahrhundert erfolgte Zuzug von Handwerkern aus dem binnendeutschen Raum gaben der Stadt wichtige Impulse im Industrialisierungsprozess.
Letzterer bewirkte gerade bei den sächsischen Stadtbewohnern einen signifikanten Elitenwechsel. Während noch um 1800 die alten Patrizier- und Stadtbeamtenfamilien, die zum Teil von den Habsburgern nobilitiert worden waren, die politischen und wirtschaftlichen Schalthebel bedienten, hatten diese um 1900 bereits die zu Fabrikanten aufgestiegenen ehemaligen Handwerker und die Angehörigen der so genannten „freien Berufe“, vor allem Rechtsanwälte, übernommen.
Die lange Friedensperiode nach 1711 garantierte nun auch außerhalb der Stadtmauern ein sicheres Leben. Diese stabilen Verhältnisse bescherten den Vorstädten eine wirtschaftliche Blütezeit, da nun materielle Werte langfristig bewahrt und gemehrt werden konnten. Im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte sich folglich ein selbstbewusster Bartholomäer Bauernstand, der von der Versorgung der Inneren Stadt mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen gut leben konnte und der sich auch durch die Beibehaltung seiner sächsischen Mundart von den meisten Bewohnern der Inneren Stadt abgrenzte.
Am 17. September 1862 gelang es schließlich der Bartholomäer Kirchengemeinde, einen Beschluss der Landeskirchenversammlung zu erwirken, der bestimmte, dass sie ab dem 10. Mai 1863 als eigenständige Gemeinde alle Rechte und Pflichten einer Burzenländer Kapitulargemeinde besitzen sollte. Bartholomä hatte sich damit von der Honterusgemeinde abgespalten. Das sechzigjährige Jubiläum der Etablierung einer selbständigen Gemeinde bewog 1923 den Bartholomäer Pfarrer Dr. Eugen Lassel, in seiner Festrede hervorzuheben, dass diese Eigenständigkeit besondere Kräfte in der Gemeinde freigesetzt habe. Diese zeichnete sich nicht nur durch ein reges geistliches, kulturelles und schulisches Leben aus, sondern stellte durch repräsentative Bauten auch das gewachsene Selbstbewusstsein der Bartholomäer zur Schau.
Hier sei das imposante Pfarrhaus zu nennen, das Heinrich Zillich allerdings als „häßliches Gebäude“ wahrnimmt, „das neben der schönen Bartholomäuskirche wie die Verkörperung des Aufdringlich-Neuen steht“. Lassel fasste das historische Verhältnis zwischen Corona und Bartholomä seit dem 13. Jahrhundert mit folgenden Worten zusammen: „So war Bartholomae zuerst die Mutter, dann die Tochter der Stadtpfarrgemeinde Kronstadt, seit 1863 die Schwester…“. Für die Honterusgemeinde war die Entlassung der „Tochter“ in die Selbständigkeit nicht ganz einfach zu verkraften.
Allein schon ein Blick auf die Zahl der Gemeindemitglieder macht dies deutlich: Der Jahresbericht für das Jahr 1860 – also für die Zeit vor der Trennung – meldete für die Honterusgemeinde folgende Zusammensetzung: „Muttergemeinde 3.409, Bartholomäer Kirchspiel 1.916, Obervorstädter Kirchspiel 1.245, Blumenauer Kirchspiel 672 und Martinsberger Kirchspiel 522 Personen“.
Das Ausscheiden von etwa 22% der 8.632 Gemeindemitglieder kommentierte der Kronstädter Stadtpfarrer Samuel Traugott Schiel im Jahresbericht für das Jahr 1863 folgendermaßen:
„Im Laufe des vergangenen Jahres ist endlich der lange genährte Wunsch der Bartholomäer Tochtergemeinde erfüllt worden; sie ist durch den Beschluß der Hochlöblichen Landeskirchenversammlung vom 17. Sept. 1862 aus der Muttergemeinde ausgeschieden und am 5. Sonntag nach Ostern 1863 durch eine H. Landes-Consistorial-Commission in feierlicher Weise zur selbständigen Gemeinde mit allen Rechten und Pflichten einer Burzenländer Kapitulargemeinde erklärt worden. Bei dem Scheiden des Jahres aber, in welchem die Mutter die selbständig gewordene Tochter aus dem bisherigen gemeinsamen Vaterhause und nähern Familienkreise nicht ohne Wehmuth scheiden sah, kann das Presbyterium nicht umhin, die Worte mit welchen der bisherige gemeinsame Oberpfarrer seine letzte Predigt in der Bartholomäuskirche schloß, noch einmal den Bartholomäer Brüdern und Schwestern zuzurufen: ‚Alle eure Dinge lasset in der Liebe geschehen! Darum blicket mit den Augen dankbarer Liebe zurück auf eure alte Verbindung mit der Muttergemeinde; bleibet auch nach der äußerlichen Trennung als evangelische Brüder innerlich mit uns verbunden in herzlicher Liebe, und lasset die gesunden und kräftigen Früchte eurer Freiheit und Selbständigkeit und eures evangelischen Bekenntnisses offenbar werden in einem frommen und thatkräftigen evangelischen Leben! So wird ein reicher Segen hervorwachsen auch aus dieser Trennungsstunde, und der Gott der Gnade und Barmherzigkeit, der Gott der Liebe und des Friedens bei euch sein und bleiben immer und ewiglich!‘ – So haben wir von nun, statt einer, zwei schöne, große und lebenskräftige Kronstädter evangelische Gemeinden, die wetteifern mögen in schwesterlicher Eintracht und in Allem, was schön und gut und löblich ist vor Gott und den Menschen.“
In der Tat belebte eine stimulierende Konkurrenz die Entwicklung der beiden Stadtteile in den folgenden acht Jahrzehnten, die – trotz des Ersten Weltkriegs – von einer kulturellen und wirtschaftlichen Blüte gekennzeichnet waren.
Noch einschneidender als die Kriege der Frühen Neuzeit veränderten aber der Zweite Weltkrieg und die danach folgende kommunistische Herrschaft die Strukturen der Stadt, die mit dem weitgehenden Verschwinden der deutschen und jüdischen Einwohner auch zwei wesentliche Faktoren ihrer Weltoffenheit verlor. Die Aufgeschlossenheit der Kronstädter gegenüber anderen Völkern und Kulturen, die zum Kanon der unter der Zinne anzutreffenden Selbstbilder gehört, wird durch die bereits gefallenen Stichworte „Pragmatismus“ und „Freiheitsdrang“ ergänzt.
Diese als Besonderheit der Kronstädter innerhalb, aber auch außerhalb der Stadt wahrgenommenen Eigenschaften verbanden alle Generationen und Sprachgruppen der Stadt. Den von den Herrschenden als Renitenz interpretierten Drang der Kronstädter nach Selbstbestimmung spürten nicht nur siebenbürgische Fürsten und habsburgische Kaiser, sondern letztlich auch der Diktator Nicolae Ceauşescu, gegen dessen kommunistisches Regime sich die Kronstädter Arbeiter im November 1987 erhoben. Spätestens seit der politischen Wende von 1989/1990 leben die Kronstädter in aller Welt verstreut, und es ist wahrlich nicht einfach, ihr Zusammengehörigkeitsgefühl unter diesen Gegebenheiten aufrechtzuerhalten und an die nächsten Generationen weiterzugeben.
Wie bereits erwähnt, ergänzen sich Freiheitsdrang und Pragmatismus in vielen Lebenssituationen sehr gut, manchmal muss aber zwischen ihnen abgewogen werden. Deshalb haben heute die beiden Heimatortsgemeinschaften ihren Sinn für Pragmatismus über den Freiheitsdrang der Kronstädter gestellt und sich entschieden, den zukünftigen Weg zusammen zu beschreiten. Wenn zum Pragmatismus die von Stadtpfarrer Samuel Schiel beschworene „schwesterliche Eintracht“ hinzukommt, dann bin ich überzeugt, dass dieser Schritt zum Wohle aller außerhalb und innerhalb der alten Heimat lebenden Kronstädter beiträgt. Und deshalb wünsche ich der neuen Heimatgemeinschaft aller Kronstädter alles Gute und viel Erfolg!
(Schluss)