Januar 2013. Ich fliege aus Frankfurt nach Havanna, von wo ich wiederum direkt nach der Ankunft mit einem blauen Touristenbus der Linea Azul in den 80 km entfernten Ort Matanzas fahre, um dort meinen alten Freund Armando zu besuchen. Ich wundere mich ungemein, als ich auf dem Dach seines Hauses eine Obstschüssel mit Papaya-, Mangofrüchten und Kokosnüssen entdecke. Andere Länder, andere Sitten, denke ich.
Wenn man in Deutschland mit Obst oder anderen Agrarprodukten protzen möchte, dann stellt man sie nicht auf dem Dach aus, sondern beim Erntedankfest vor dem Haus. Aber als ich Armando auf diesen Kulturunterschied anspreche, erklärt er mir im Flüsterton und sich nach allen Seiten umblickend, hier gehe es gar nicht um eine Obst-, sondern um eine Satellitenschüssel. Zumal die kubanische Regierung das Anbringen von Parabolantennen verboten habe, um den Empfang von giftigen TV-Sendern aus den USA zu verhindern, hätte er seine Antenne als Obstschüssel getarnt. Nun bleibe ihm nur noch zu hoffen, die Staatskontrolleure bekämen keinen Appetit auf seine Früchte.
Drei Tage später in La Habana Vieja, der Altstadt Havannas, fühle ich mich an meine Jugend im Rumänien der 70er erinnert, denn an jeder Straßenecke steht ein Polizist. Die kubanischen Polizisten sind sehr pflichtbewusst. Sie verteidigen die Errungenschaften der Castro-Revolution. Das sei aber gewiss kein Honigschlecken, wie mir die kubanischen Nicht-Polizisten, mit denen ich spreche, hinter vorgehaltener Hand zuflüstern, weil es diese Errungenschaften über-haupt nicht gebe. Die Auswirkungen der Revolution empfinden die heutigen Kubaner eher als schwere Last, doch verehren sie immer noch das Antlitz Che Guevaras, da es sich in Form von T-Shirts an Touristen prima verkaufen lässt.
Eines Abends befinde ich mich auf der Calle Obispo, der wichtigsten Altstadtstraße Havannas. Es gibt dort zahlreiche Musikkneipen, aus denen heiße Karibik-Rhythmen auf die Straße dringen, und vor dem Musiklokal mit dem märchenhaften Namen „Lluvia de oro“ (Goldregen) kontrolliert ein übellauniger Polizist gerade den Ausweis eines jungen Mulatten mit einer bunt gestreiften über die Ohren gezogenen Häkelmütze. Und bevor er ihn ziehen lässt, löchert er ihn noch eine Weile mit Fragen.
Ich habe nun auch eine Frage und so nähere ich mich dem immer noch grimmig dreinschauenden Polizisten, der meinem Blick ausweicht.
„Disculpe, senor, tengo un problema“, sage ich. „Sorry, ich habe ein Problem.“
Jetzt sieht er mich misstrauisch an. Was bin ich denn für einer? Er würde wohl gerne auch meinen Ausweis sehen, aber ich bin offenbar ein Tourist, und Touristen hat man laut Dienstanweisungen in Ruhe zu lassen.
„Donde esta la luna, por favor?“, sage ich. „Könnten Sie mir bitte sagen, wo der Mond ist?“
La luna?! Ob es sich hier um eine Adresse handele, fragt er, er kenne diese Straße nicht.
Nein, es gehe um den Mond und um nichts anderes, la luna, den Mond oben am Himmel, sage ich und zeige nach oben. Den könne ich überhaupt nicht finden.
Er schaut mich etwas verwirrt an, womöglich zweifelt er nun an meinen Verstand. Oder möchte ich ihn etwa auf den Arm nehmen? Aber da ich weiterhin ernst bleibe und beharrlich nach oben weise, folgt sein Blick endlich meinem Zeigefinger.
Der zauberhafte, schwarz-blaue, sternenübersäte Himmel der Havanna-Nacht ist zwar in seiner unendlichen Weite vorhanden, aber der schöne havannesische Mond fehlt in der Tat ganz und gar. Mit halboffenem Mund und in den Nacken gelegtem Kopf tastet der Polizist den Himmel mit dem Blick sorgfältig ab, doch seine Suche bleibt auch weiterhin erfolglos.
Aber ein kubanischer Polizist lässt sich nicht so einfach aus dem Konzept bringen. Er greift entschlossen zum Handy, das an seinem Gürtel neben der Pistole und den Handschellen befestigt ist, und wie ich seinem rauen, zackigen Befehlston entnehme, beginnt er nun mit einem Untergebenen zu telefonieren.
„Hola. Donde esta la luna?“, sagt er schroff in den Hörer.
Es folgt eisiges Schweigen.
Hola, sagt der Polizist wieder. Estas aun aqui? Bist du noch dran? Und? Wo ist er? Wie welcher Mond?! Der Mond.
Es dauert nicht lange, bis der andere sich wieder zurückmeldet.
Aha! sagte der Polizist trocken. Okay. Und legt auf.
Dann wendet er sich wieder mir zu: Es gehe in diesem Fall um la luna muerta, den toten Mond. Es gebe immer wieder einige wenige Tage, wo der Mond unsichtbar sei, er sei dann praktisch wie tot.
Ich bedanke mich für diese Erklärung und kehre anschließend in Lluvia de oro ein, wo eine kubanische Musikgruppe, Los Bandoleros, den Gästen mächtig einheizt. Ich setze mich an einen Tisch mit zwei jungen, dunkelhäutigen Paaren und bestelle mir einen Mojito. Die zwei Paare prosten mir fröhlich zu, bevor sie sich auf die Tanzfläche stürzen. Nun bin ich allein geblieben. La luna muerta, geht es mir immer wieder durch den Kopf, la luna muerta. Dann fällt mir der ratlose Polizist am anderen Ende der Leitung ein. Würde er nun dienstlichen Ärger bekommen?
Los Bandoleros, nicht weit von mir, wiederholen immer wieder das gleiche Motiv, bis sie in Trance geraten. Sie spielen als gäb’s kein morgen mehr: Der eine prügelt wie wild auf das Schlagzeug ein, der andere schüttelt wie besessen die Maracas, der dritte trommelt ekstatisch auf der Conga, während der Trompetenspieler sich die Lunge aus dem Leib pustet. Dann singen sie alle zusammen, wie aus einem Mund:
Al cuarto de Tula, le cogió candela. Se quedó dormida y no apagó la vela.
Oder auf gut Deutsch:
Tula’s Zimmer ist in Brand geraten,
Sie schlief ein und löschte die Kerze nicht aus.
Na bitte, denke ich. Da haben wir schon wieder den Salat. Alles gerät hier langsam aber sicher außer Kontrolle. Die Leute sind unzufrieden, der Mond verschwindet ohne Wissen der Polizei, und nun brennen auch noch die Wohnungen.