Ein Besuch bei den Donauschwaben in Brasilien

Haidrun Pergande und Roger Kunert sind in Mecklenburg zu Hause und reisen gern.

Das Grab von Nikolaus und Margareta Schmidt

Im „fünften Dorf“ der Schwaben, Samambaia Fotos: die Verfasser

Unsere Südamerikareise führte uns auch nach Entre Rios in Brasilien. Eigentlich begann die Planung für die Reise im August 2023 in Billed im Banat. Dorthin hatten uns unsere Banater Freunde, Kathrin und Gerhard, zum Kirchweihfest im Sommer mitgenommen. Abgesehen von dem schönen traditionellen Fest hat uns das schmucke Vereinsgebäude der Banater Schwaben in Billed gefallen. Zur Geschichte steht dort auf einer Gedenktafel: „Dieses Haus wurde 1920 von Jakob und Magdalene Schmidt, geb. Hehn, erbaut. Es wurde 2002 der Billeder Heimatgemeinschaft e.V. von deren Sohn und seiner Ehefrau, Nikolaus und Margarethe Schmidt, geb. Seibert, geschenkt, die nach den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges in Entre Rios in Brasilien eine neue Heimat gefunden haben.“ 

Wir hatten damals gerade mit den Vorbereitungen unserer großen Südamerika-Reise begonnen. Und sofort stand fest: Wir müssen unbedingt auch nach Entre Rios und uns nach dem Schicksal der Familie Schmidt erkundigen. Aus den Erzählungen unserer Freunde und durch unsere Reisen in Rumänien kannten wir immerhin die grundlegende Geschichte der Donauschwaben, aber von ihrem Schicksal in Brasilien hatten wir bis dahin noch nie gehört.So hatten wir auch nur eine sehr vage Vorstellung von dem, was uns in Brasilien erwarten würde: Wie waren die Donauschwaben nach dem Zweiten Weltkrieg dorthin gekommen? Und warum Brasilien? Werden wir noch Familien treffen, die schwäbisch sprechen? Und werden wir dort überhaupt ein Quartier finden, fernab von touristischen Attraktionen?

Und dann erlebten wir auf unserer Reise durch Brasilien eine Überraschung nach der anderen. Gleich die erste bot uns der Taxifahrer, der uns von Guarapuava nach Entre Rios brachte (ca. 18 Kilometer). Er zeigte uns ein modernes großes Veranstaltungshaus mit der stolzen Erklärung: „Alles Agraria!“ Große Felder, die mit Soja angebaut werden, soweit das Auge reicht. „Alles Agraria!“ Und im Ort sahen wir die schicken Wohnhäuser mit gepflegten Gärten: „Arbeiten bei Agraria!“. Und eines dieser schönen Häuser war dann unser Quartier für die nächsten Tage: Das Hotel „Vollweiter“. „Ihr seid aus Deutschland, herzlich willkommen“, wurden wir gleich freundlich von der Chefin des Hotels begrüßt. Sie war gerade dabei, die Osterdekoration im gesamten Haus und im Garten anzubringen. Das Haus selbst ist urgemütlich im süddeutschen Stil gebaut und mit wunderschönem großen Garten. Wären da nicht die großen Echsen auf den Wegen, könnte man meinen, in Deutschland zu sein. Natürlich fragten wir Familie Vollweiter sogleich nach Familie Schmidt. Nun ja, Schmidt heißen hier bei uns natürlich viele, hieß es. Aber was immer ihr über unseren Ort und die Menschen wissen wollt, das erfahrt ihr im Museum von Roberto. Er kennt nicht nur die Namen der Familien, sondern auch die ganze Geschichte der Aussiedler. Und schon saßen wir im Auto bei Herrn Vollweiter, der uns zum Museum fuhr. Eigentlich sind wir gut und gern zu Fuß unterwegs. Aber wir merkten schnell, dass die Siedlung Entre Rios zwar ländlich geprägt, aber mit ihren wie in einem Kreis angelegten fünf Dörfern unglaublich weitläufig war. Wollte man sie nacheinander ablaufen, hätte man etwa 23 Kilometer zu bewältigen gehabt. Das in unserer Vorahnung kleine (vermutlich auch etwas verstaubte) Heimatmuseum im Hauptdorf Vitória entpuppte sich als ein modernes Kulturzentrum mit allem Drum und Dran einschließlich einem festlichen Hörsaal und einer umfangreichen Bibliothek mit deutschsprachiger Literatur.
Die nächste Überraschung – das moderne Museum! Roberto Essert gab uns beiden eine sehr interessante Führung mit der Geschichte der Donauschwaben vom 18. Jahrhundert bis hin zur Ausreise nach Entre Rios in Brasilien. Anschließend haben wir uns weitere zwei Stunden im Museum aufgehalten, das perfekt und interaktiv gestaltet war. Wir meinten, dabei zu sein, wie die Donauschwaben dort ankamen. Eigentlich so ähnlich wie wir vor wenigen Tagen: mit dem Schiff, mit der Bahn und schließlich von Guarapuava über die Straße – allerdings nicht wie wir mit dem bequemen Taxi, sondern sie kamen damals auf der Ladefläche von LKWs. Die ersten Donauschwaben landeten keineswegs in einem Ort, sondern im Nichts, auf einer Ackerfläche (wie damals die Deportierten in den Baragan). Was mag in den Menschen vorgegangen sein, die nach mehr als sieben Jahren Angst, Flucht, Ungewissheit und Auffanglager nun hier in Brasilien ein neues, freies Leben beginnen wollten? Für sie lagen hier lediglich Bretter bereit zum Bau der neuen Häuser. Und sie bekamen zu Essen, vor allem Fleisch. Jeden Tag wurde Gulasch gekocht, hieß es. Deswegen sind die ersten Monate für die Ankömmlinge auch als die „Gulaschzeit“ in Erinnerung geblieben. Hier ist nicht der Platz, um die ganze interessante Geschichte der Donauschwaben von Entre Rios aufzuschreiben. Bis ins Detail aber wird und wurde sie von der Donauschwäbisch-Brasilianischen Kulturstiftung erforscht und in zwei dicken Büchern zusammengefasst. Trotz unseres sehr begrenzten Reisegepäcks haben wir uns die ausgezeichnete veröffentlichte Kurzfassung der Geschichte, das „Heimatbuch Entre Rios“, gekauft und können es allen sehr empfehlen, die sich mit den Do-nauschwaben in Brasilien konkreter befassen möchten.

Nach Flucht und Vertreibung aus dem damaligen Jugoslawien und Rumänien hatten viele der Donauschwaben Aufnahme in österreichischen Lagern gefunden. Dort lebten sie zum Teil jahrelang. Und mit den Jahren schwand ihre Hoffnung auf Heimkehr. Die Initiative, für ihre Landsleute eine neue Heimat zu finden, ging von zwei Männern aus, die aus Syrmien, dem Gebiet zwischen Donau und Save stammten. Der Diplomagrarökonom Michael Moor und Pater Josef Stefan fanden den Kontakt zur Schweizer Europahilfe. Mit deren maßgeblichen Möglichkeiten begann 1950 das großartige Projekt der Einwanderung von 500 Familien in Brasilien. Eine  vom Klima und von den Bodenverhältnissen halbwegs passende Region wurde gesucht und bei Guarapuava, im Süden Brasiliens, im Bundesstaat Paraná, gefunden. Bereits im Mai 1951 gingen die ersten Donauschwaben von Österreich aus auf die lange Reise ins Ungewisse. Weitere sechs Transporte folgten bis zum Februar 1952. Mit der etappenweisen Ankunft der Neuankömmlinge entstanden die fünf Dörfer der Siedlung Entre Rios. Heute sprechen die Schwaben einfach mit den Nummern: erstes, zweites, drittes... Dorf, obwohl sie auch Namen haben. Die Banater Familien kamen überwiegend mit dem letzten Transport an. Sie leben und lebten zumeist im fünften Dorf, das Samambaia heißt.

Von den Organisatoren der Schweizer Flüchtlingshilfe waren grundlegende Bedingungen für die Übersiedlung nach Brasilien gestellt worden. In Mitteilungen, die in den Flüchtlingslagern in Österreich verteilt wurden, hieß es unter anderem: Bewerber, die an politischen oder Kriegsverbrechen beteiligt waren, werden nicht zugelassen. Und eine weitere Bedingung an die Bewerber lautete, sie mussten Mitglied der Genossenschaft werden und ein Jahr lang Gemeinschaftsarbeit leisten. Diese Arbeit begann dann auch sofort nach ihrer Ankunft mit dem Bau der Holzhäuser, an dem sich jeder beteiligte. Zuvor waren die Grundstücke vermessen und an die Familien verlost worden. Es war dieser Genossenschaftsgedanke von Michael Moor, der es den Do-nauschwaben ermöglichte, hier nicht nur Fuß zu fassen, sondern im Laufe der Zeit einen der größten landwirtschaftlichen Betriebe in Brasilien aufzubauen, der sich heute sehr erfolgreich in der Marktwirtschaft behauptet. Moor war von 1951 bis 1954 der erste Präsident der „Agraria“. Damals gab es große Anfangsschwierigkeiten bei der Erschließung des Bodens für den Ackerbau und Probleme mit dem ungewohnten Klima; es gab Missernten. Zwar bot die Genossenschaft Arbeit für alle, aber das Einkommen reichte zumeist nicht für das Auskommen einer großen Familie. Viele Frauen gingen deshalb für ein paar Jahre nach Sao Paulo, um dort mit Hilfsarbeiten für den Unterhalt der Familie beizutragen. Diese besonders schweren Jahre des Neubeginns haben nicht alle gut bewältigt. Etwa die Hälfte der Familien kehrte nach Europa, manche auch in das Schwabenland zurück. Am Computer im Museum kann jeder Besucher nach den Familien suchen, die nach Brasilien kamen, blieben oder wieder weggegangen sind. Es sind die jeweiligen Lebensdaten und Fotos hinterlegt. So fanden wir auch „unsere“ Familie Schmidt aus Billed. Margarete war im Jahr 1996 verstorben, ihr Mann Nikolaus 2010. Wir sind anschließend mit dem Stadtbus nach Samambaia gefahren, um den beiden auf dem Friedhof unsere Ehre zu erweisen.

Noch einmal zurück zum Museum. In großen Vitrinen sind dort auch die unterschiedlichen Trachten der Donauschwaben zu bewundern. Was uns ebenso beeindruckt hat, sind die sozialen Errungenschaften der „Agraria“: Die moderne Schule, ein Pflegeheim für die Generation der „Pioniere von Entre Rios“ sowie ein Krankenhaus. Die Donauschwaben pflegen ihre Kultur und Traditionen bis heute mit Stolz und großer Hingabe, aber das müssen wir wohl nicht betonen. Das Kulturgut wird nicht allein im Museum bewahrt, sondern in jeder Familie, in den Trachtentanzgruppen und den Musikgruppen. Die traditionellen Feste werden gefeiert wie eh und je. Es gibt einen eigenen Radiosender und die deutsche Zeitschrift „Entre Rios“.
Wir wollen nicht verschweigen, dass wir die besonders gemütlichen Stunden in der Brauerei „Donaubier“ von Harry Reinerth sehr vermissen; nicht allein das köstliche Bier und die Küche, vor allem auch den Wirt. Er war stets gut aufgelegt für ein Gespräch mit seinen Gästen. Ach, wäre es doch nicht so weit bis Entre Rios, wir kämen immer wieder gern dorthin!