„… es macht Spaß, die alten, oft umfangreichen Briefe wieder zu lesen“

Hans Bergel zum 100. Geburtstag

Hans Bergel 2016 Foto: Dieter Drotleff

Lesung mit Hans Bergel am 7. Mai 1999 im deutschen Kulturhaus „Friedrich Schiller“ in Bukarest. Mariana Lăzărescu trägt die rumänische Übersetzung vor. Screenshot YouTube

Über den Schriftsteller, den Menschen und den Freund Hans Bergel drei Jahre nach seinem Tod zu schreiben, ist mir ein inneres Bedürfnis, so traurig es auch ist. Hans Bergel darf niemals in Vergessenheit geraten, denn über ihn ist immer wieder etwas Ungesagtes oder Ungeschriebenes zu entdecken. In meinen Augen war er ein „homme de lettres par excellence“, ein produktiver Romancier, Novellist, Essayist, Herausgeber, Übersetzer, Literatur- und Kunsthistoriker, Musiker, Journalist, Landschaftsfotograf, Leistungssportler, für mich persönlich vor allem ein Freund und Berater, mit dem ich durch die Jahre einen ideenreichen Briefwechsel geführt habe.

Er wurde am 26. Juli 1925 in Rosenau bei Kronstadt/Bra{ov in Siebenbürgen als Sohn eines Volksschullehrers geboren. Während seiner Kindheit und Jugend genoss er mit seinen Geschwistern, insbesondere mit dem überaus begabten Bruder, dem späteren Dirigenten und Musiker Erich Bergel, eine gründliche musikalische Ausbildung und eine eindrucksvolle Allgemeinbildung. Seine Biografie ist bekanntlich romanhaft, so vieles sollte der vielfach interessierte und veranlagte Schriftsteller in seinem langen Leben voller unerwarteter Wendungen erleben. Von seinen Peripetien bis zur Poesie ist nur ein kleiner Schritt, schrieb er mir in einem Brief vom 18.3.2007.

Als Leichtathlet und Skifahrer erhielt Bergel mehrere Auszeichnungen und wurde 1948/1949 rumänischer Landesmeister und Recordman im 800-Meter-Staffellauf und danach Mitglied der rumänischen Ski-Nationalmannschaft. In der Reihe der Ehrerweisungen, die Bergel seit 1989/90 in Rumänien erfuhr – Ehrenbürgerschaft der Stadt Kronstadt, Ehrenmitgliedschaften der „Academia Olimpic² Român²“ und der „Academia Civică“, „Schriftsteller Kronstadts“, „Opera Omnia“ – literarischer Preis des Rumänischen Schriftstellerverbandes, Kronstädter Abteilung, Ehrenmitgliedschaft der Kronstädter Philharmonie – stellte die Auszeichnung mit dem Titel eines Ehrendoktors der Bukarester Universität 2001 die bedeutendste dar.

Die schriftstellerische Leistung Bergels war außergewöhnlich. In seinem abenteuerlich-unruhigen Leben entstand sein vielseitiges, zeitdokumentarisch aufschlussreiches Werk. Er veröffentlichte rund 50 Bücher zu allen literarischen Gattungen, Zeitungsaufsätze in in- und ausländischen Periodika, war Mitverfasser von zahlreichen Büchern, Außenmitarbeiter des Bayerischen Rundfunks, 1970 bis 1989 Schriftleiter der „Siebenbürgischen Zeitung“ und ab 1991 Mitherausgeber der „Südostdeutschen Vierteljahresblätter“ in München.

Ende der 1950er Jahre lenkte er durch die literarische Begabung und den politischen Nonkonformismus seiner ersten Veröffentlichungen die Aufmerksamkeit der Leser und Leserinnen auf sich sowie jene der kommunistischen Zensur in Rumänien. Der seit 1968 in Deutschland lebende Autor hat in seiner Publizistik, in seinen Erzählungen und Romanen alles zum Ausdruck gebracht, was er im Laufe seines über neun Jahrzehnte umfassenden reichhaltigen Lebens gesehen und erfahren hat.

Für mich war Bergel auch ein fleißiger Briefeschreiber. Er verfasste schnell Briefe, antwortete auch immer prompt darauf. Briefe heute in der Ära der sozialen Netzwerke aufs Papier zu setzen und auf den Postweg zu schicken, gilt für die meisten Leute als obsolet. Elektronische Briefe, Mails, SMS sind heutzutage gang und gäbe. In einem gefaxten Brief vom 7. November 2010 schrieb mir Bergel: „… es macht Spaß, die alten, oft umfangreichen Briefe wieder zu lesen.“ Dass er die Briefe ausnahmslos maschinen-, niemals computergeschrieben verschickte, war (s)eine Besonderheit.

Aus meinem abwechslungsreichen Briefwechsel mit ihm sind viele weniger bekannte Facetten seiner Person ersichtlich. Es sind nicht irgendwelche privaten Episteln, sondern Briefe, die auch für die Nachwelt wichtig sein können, denn sie enthalten Reflexionen, Ansichten, Deutungen, Kommentare, Erfahrungen, Betrachtungen, Erkenntnisse in einer sprachlich ausgefeilten Form, Glückwünsche zu verschiedenen Feiertagen, verkleidet in Zitaten von Schriftstellern, Historikern und Kulturleuten. Somit werden die Briefe zu literarhistorischen und kulturgeschichtlichen Kleinodien, zu spannenden Zeitdokumenten.

Im Mai 1994 lernte ich den Schriftsteller Hans Bergel kennen – und zwar auf dem Germanistenkongress in Neptun an der Schwarzmeerküste, organisiert von Prof. Dr. George Gu]u, dem damaligen Präsidenten der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens. Als gebürtige Kronstädterin hatte ich von Hans Bergel gehört. Unsere gemeinsame Herkunft im Burzenland, die langen Gespräche über „unser“ Kronstadt, meinen Deutschlehrer und Bergels Freund Georg Scherg waren der Anfang einer Freundschaft, die bis zu seinem Tod währte. Ich erfuhr damals von Hans Bergel Dinge, die uns im Kronstadt meiner Schulzeit am „Johannes Honterus“-Gymnasium offiziell vorenthalten worden waren. Danach zu fragen, traute man sich nicht. Dieser Hintergrund unserer Bekanntschaft ist wichtig, um zu verstehen, warum mich die Begegnung mit Hans Bergel tief berührte. Ich lernte im Laufe unserer Gespräche einen Menschen mit der Fähigkeit zur Interaktion, zum unkompliziert geführten Gespräch kennen, der in der Lage war, Aufschluss über die dunklen Ereignisse zu geben, über die uns ein verzerrtes, falsches Bild vermittelt worden war. Nun stand ein Schriftsteller, der aus Siebenbürgen stammte und aus Deutschland nach Neptun gekommen war, um aus seinem Werk zu lesen, vor mir, jemand, der als Opfer des Terrorregimes im „Gruppenprozess deutscher Schriftsteller“ am 15. September 1959 in dem damals zu „Stalin-stadt“ umgetauften Kronstadt zu hoher Strafe verurteilt worden war. Seine Darstellung des zeitgeschichtlichen Kontextes ließ mich manches besser oder erst überhaupt verstehen. Die Informationen, die ich am Rande der Gespräche mit Hans Bergel damals mitgenommen habe, sollten für meine künftige Arbeit als Germanistin Orientierungswert haben und die Grundlage eines meiner Arbeitsschwerpunkte werden, nämlich die Exegese der Prosa, der Essayistik und der Poesie Bergels sowie das Übersetzen einiger seiner Texte.

„Verehrte Frau Lăzărescu, Ihnen einen Bildgruß in Erinnerung an die gemeinsamen Stunden am Schwarzen Meer und an der Donau zu senden, ist mir ein Bedürfnis. Ich habe mich gefreut, Sie und Ihren Mann kennengelernt zu haben, und ich hoffe, dass wir uns gelegentlich wiederbegegnen. Ich bin mit guten Wünschen an Sie beide und mit herzlichem Gruß, Ihr Hans Bergel“ (Brief vom 27.5.94).

Der Kongress hatte zwischen 16.-19.5.1994 stattgefunden, also wurde die Karte sehr schnell nach der Rückkehr Bergels geschrieben und versandt.
Im Juni 1994 kam ein langer Brief, in dem mir Bergel vom Eintauchen in Berufsarbeit nach dem Neptun-Kongress schrieb und dass ihm nach jeder Reise immer dasselbe widerfahre: „die mühsame Suche nach jenem Trancezustand, der mich in die Welt des Textes versetzt, an dem ich arbeite.“ Und so begann unser Briefwechsel, unsere Zusammenarbeit, unsere Freundschaft. Wir gingen langsam von Siezen zum Duzen über, telefonierten meis-tens lange miteinander. Ganz offen gestand er mir im Brief vom 16. August 1994: „… immer noch fühle ich mich von Rumänien so angeregt wie früher, und wenn ich zwischen Arad und Kronstadt, Bukarest und Hermannstadt, auf dem Törzburger Pass zwischen Bucegi und Piatra Craiului oder im Pasul Buzăului herumstrolche, bin ich mir meiner südöstlichen Ver- und Gebundenheit wie eh und je bewusst. Treffe ich dazu eine meiner ehemaligen rumänischen Freundinnen – es waren nicht viele, aber alle waren sie prachtvolle Frauen –, fühle ich mich erst recht ‚ca la mama acasă‘.“

Aus diesen Zeilen – wie aus vielen anderen Briefen – geht Bergels Liebe zur rumänischen Landschaft sowie zur rumänischen Sprache hervor, die er mit mir oft zu sprechen pflegte.


Wie sehr er sein Geburtsland mochte, lesen wir aus dem Brief vom 30.3.2002 heraus:

„Die Fahrt von Bukarest über den Predeal-Pass nach Kronstadt war in der tief verschneiten Gebirgslandschaft von bizarr-fantastischer Schönheit, der ins Morgenlicht getauchte weiße Bucegi wirkte wie eine Anhäufung von Gralsbergen aus Gold. Und von Kronstadt bis Hermannstadt trieb mich die Abenteuerlust trotz Magenkrämpfen und Müdigkeit auf die Transfăgărășan-Hochstraße – ich kam bis Bâlea-Cascadă, riesige Schneemengen rechts und links der geräumten Straße und auf den Höhen vor mir. (…)“

Ich glaube, nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, dass die Briefe von Bergel an mich nicht nur bedeutende literaturkritische Ausführungen enthalten, sondern oft auch einen Bekenntnischarakter aufweisen. Im Brief vom 12.1.2000 heißt es: „Ich arbeite an Band II des Romans, wobei ich – warum soll es mir anders ergehen als dem großen Thomas Mann – weniger auf das Erzählen den Großteil der Zeit verwende als vielmehr auf das sprachliche Zurecht- und Ausfeilen. Immer häufiger stelle ich mir dabei in diesem Zusammenhang die Frage: ob diese kräfteverschleißende Pflege der Sprachkultur in einer Zeit noch Sinn hat, die sich lustvoll einem generellen Prozess der Vergröberungen, der Brutalisierungen vom Film bis zum Buch, von der Umgangssprache bis zur Musik hingibt.“

Obwohl in den letzten Jahren immer skeptischer über die Entwicklung der Zustände in der Welt und vor allem im Hinblick auf die europäische Zukunft, machte er sich bis zu seinem Tode mutig und gewissenhaft an die Arbeit, denn Schreiben war sein Leben, und tauchte dabei gern in seinen „Romanozean“ ein.
Der letzte Brief stammt vom 20.7.2021, wurde also kurz vor seinem 96. Geburtstag geschrieben, immer noch auf der Schreibmaschine, die er in einem anderen Brief „seine alte Dame“ nennt, von der er sich nicht trennen möchte. Es ist ein trauriger Brief, denn Krankheit und Missbehagen plagten den Menschen und Schriftsteller. Obwohl erschöpft vom Aufenthalt in der Klinik, drückte er seine Genugtuung aus, wieder am Schreibtisch sitzen zu können, in Erwartung der Ausdrucke von den Erzähltexten für den III. Band. Dieser sollte den Titel „Die Stunde der Schlangen“ tragen und anstelle des III. Bandes der Romantrilogie „Finale“ erscheinen, den er nicht mehr zu schreiben gedachte. Große Freude bereitete ihm das Erscheinen des zweibändigen Bergel-Breviers von Peter Paspa bei Noack und Block in Berlin pünktlich zu seinem 96. Geburtstag. Bergels Gedanken sind bei seinen beiden geliebten Enkeltöchtern, die er wegen der weiten Entfernung kaum zu sehen bekommt, aber auch bei Menschen, die in einigen Teilen Deutschlands apokalyptische Naturkatastrophen erleben mussten. Wie immer, beendet er den Brief mit lieben Wünschen. „Alle guten Geister mögen dich, Bebe und eure Lieben begleiten.“

Hans Bergel war ein begnadeter Schriftsteller, der mit seinem Wissen, seinem Schaffen und seinem Weitblick Menschen von überall belehren, inspirieren, zum Nachdenken anregen konnte. Die Begegnung mit ihm war ein Erlebnis, ein Fest, ein Geschenk. Er bleibt unvergessen und gegenwärtig, denn die Begegnung mit ihm bedeutete eine Bereicherung, die von Würde, Charakterstärke, Ehrlichkeit, Menschlichkeit und Lebensfreude zeugte.