Der rumänische Theaterregisseur Silviu Purcărete, dessen grandiose Inszenierungen der letzten Jahre am „Radu Stanca“-Theater in Hermannstadt/Sibiu auch international Anerkennung gefunden haben, man denke etwa an seine auf namhaften Theaterfestivals gezeigten Darbietungen von Goethes „Faust“ oder von Ovids „Metamorphosen“, ist nun erstmals mit einem Film an die Öffentlichkeit getreten, der kürzlich in den rumänischen Kinos Premiere feiern konnte.
Bereits der Beginn des Films holt die mit dem Namen Purcărete geweckten cineastischen Erwartungen der Zuschauer mit den am Winterhimmel tanzenden Schneeflocken sanft auf den Boden der Theaterbühne zurück. Ein Baum liegt quer, ein in einen dicken Mantel gehüllter junger Mann verlässt mit zwei Koffern ein Auto und stapft durch eine kulissenhafte Winterlandschaft, eine Kröte hüpft durch den Kunstschnee, eine Dampflok hält an und nimmt den Frierenden in ihr bauchiges Innen auf, in dem ein Heizer mit nacktem Oberkörper zwischen Oleanderbüschen den Dampfkessel befeuert, ein Pianist auf einem alten Klavier improvisiert und ein Hermaphrodit den Kinderarzt Dr. Serafim in Palilula willkommen heißt.
Der fiktive Ort Palilula, nicht zu verwechseln mit dem realen Belgrader Stadtbezirk gleichen Namens, erweist sich, nachdem die Dampflok mitten auf dem Marktplatz der Kulissenstadt zum Stehen kommt, als eine Cinecittà der Erinnerung, die den Regisseur und Drehbuchautor Purcărete in die Jahre seiner Kindheit und Jugend zurückführt: Warteschlangen vor Geschäften, eine Dacia als Krankenambulanz, die angeschoben werden muss, ein zahnloser Parteisekretär, der flammende Reden in der kommunistischen Phraseologie der „limba de lemn“, der so genannten hölzernen Sprache, schwingt, Ceauşescu-Porträts, die durch die Gegend getragen werden, Aktivisten, die die Bevölkerung zum Kampf für den Frieden in Form propagandistischer Manifestationen anhalten.
Doch diese historischen Reminiszenzen formen sich nicht zu einer politischen oder ästhetischen Aussage, wenn man nicht die ubiquitäre Misere, die in Purcăretes Film sattsam vorgeführt wird, zur alleinigen und generellen Gesamtaussage stilisieren möchte: Palilula als gottverlassener Ort, in dem keine Kinder geboren werden, weil die Geburt eines Kindes nach einem dort herrschenden Aberglauben den Tod eines Erwachsenen unweigerlich nach sich zieht; Palilula als heruntergekommene Klinik, in den die Abteilungen der Obstetrik und Neonatologie von erwachsenen Alkoholikern bevölkert sind, die am Spirituosentropf hängen; Palilula als dampfende Großküche, in der beleibte Kantinenfrauen Speisen für die proletarischen Massen zubereiten; Palilula als schmutzige Badeanstalt, in der in lauen Wannen liegende nackte Männer sich der Untätigkeit hingeben; Palilula als öffentlicher Operationssaal, in dem den Menschen auch noch die letzten lebenswichtigen Organe bei lebendigem Leib herausgeschnitten werden.
In diese Lebenswelt, in der nichts zu tun und nichts zu ändern ist, aus der es aber auch kein Entkommen gibt, ist nun der Kinderarzt Dr. Serafim (Dimény Áron) als Nachfolger seines auf dem Operationstisch verstorbenen Vorgängers Nenea Pantelică (Alexandru Georgescu) hineingeraten, mit dem Auftrag zu helfen, ohne dabei wirklich helfen zu können. Dr. Serafims Geschichte kennt keine Entwicklung, zerfällt vielmehr in einzelne Episoden, die leitmotivartig beständig wiederkehren: die nymphomanischen Nachstellungen durch Leana Mică (Ofelia Popii); die Trinkorgien mit dem Arztkollegen Gogu (Sorin Leoveanu in der Maske eines Schwarzen) oder mit dem Italiener (dargestellt durch den Regisseur Purcărete selbst); die abendlichen Feste im Freien mit Predoleanu (Răzvan Vasilescu) als Maître de Plaisir; die Begegnungen mit dem Hermaphroditen (Anne Marie Chertic), der je nach Mondphase zum Mann oder zur Frau wird und dann das jeweils andere Geschlecht begehrt; die synchronen Auftritte der Apothekertöchter; die mysteriös inszenierten Erscheinungen der Prostituierten (Romaniţa Ionescu) namens Capra, zu Deutsch Ziege, die als einzige der Frauen in Palilula ein Kind, wenngleich mit Bocksfuß, austrägt.
Handlungsansätze und Entwicklungsmomente werden nur zaghaft in Purcăretes berauschende Tableaus von Farben und Formen, unterstützt durch die Kunst der Bühnenbildner Helmut Stürmer und Dragoş Buhagiar sowie der Kostümbildnerin Lia Manţoc, hineingetragen. Das Statische des Films wird dadurch noch unterstrichen, dass das Kulissenhafte als solches ausdrücklich inszeniert wird. Purcărete verfährt in seinem Debütfilm ähnlich wie Lars von Trier in „Dogville“, wobei der dänische Regisseur seinen Film konsequent Theater werden lässt, während Purcărete fortwährend sein Theater als Film inszeniert. Anleihen bei Fellini und Greenaway sind unübersehbar, und die Szene am österlichen Frühlingshang mit den vielen Liebespaaren zitiert überdeutlich Michelangelo Antonionis „Zabriskie Point“. Dennoch lockert Purcărete seine statischen Tableaus, die – man denke etwa an die Szenen in dem piranesihaften unmöglichen Raum, in dem die Männer zechen und sich einander Witze erzählen – zum Teil stark illusionistisch und manieriert wirken, durch seinen sprachlichen und bildnerischen Humor, der als typisch rumänisch bezeichnet werden kann, immer wieder auf, etwa durch die mehrfach erzählte Anekdote vom Wolf und dem ihm geltenden, aber in zwei Teile aufgespaltenen Fluch.
Purcărete wertet seinen Film, der mit insgesamt 145 Minuten eindeutig zu lang geraten ist, nicht nur durch Auftritte von bekannten rumänischen Theater- und Filmschauspielern auf, wie zum Beispiel von Horaţiu Mălăele, der als Postbote die Nachricht vom Tode des Vaters (Ilie Gheorghe) von Dr. Serafim überbringt, oder von Marius Manole, der als Doctorul Şchiop (Doktor Hinkemann) das in Palilula geborene Kind, dem der Bocksfuß freilich durch seinen Vater Dr. Serafim nach der Geburt amputiert wurde, verkörpert; darüber hinaus ist es vor allem, neben Verdis „La Traviata“, die Originalmusik von Vasile Şirli, die den Film „Irgendwo in Palilula“ zusätzlich zu dem von Purcărete inszenierten Augenerlebnis auch zu einem Hörerlebnis werden lässt, das nicht zuletzt über Untiefen und Längen des Films beschwingt hinwegträgt. Die omnipräsente Begleitmusik erweist sich dabei als dasjenige Element, das den Film, der sich als Theater geriert, schließlich doch noch zum Film macht.