Die Adresse „Hauptstraße 77“ im Dorf am Ende des kleinen Seitentales ist nicht einfach nur eine Hausnummer. Auch wenn es die letzte Hausnummer der Hauptstraße ist, so ist sie nicht die Hausnummer des letzten Hauses in der Straße. Es ist jene Straße, die von der Dorfeinfahrt durch die Gemeinde hindurch an der Kirche mit ihren jahrhundertealten Fresken vorbei führt, um dann nicht etwa eine Dorfausfahrt zu sein, sondern der ausgetretene Weg zu den Weideflächen.
Bei dem Haus mit dem Nummernschild 77, das am Holzpfosten des Gartentürchens angenagelt ist, hört die Straße auf, eine Straße zu sein. Mit dem Ende des Straßenbelages werden Furchen im fest getretenen Lehmboden deutlich, wie sie Pferdekarren hinterlassen. Am gleichen Pfosten, an dem das Hausnummernschild am letzten der ehemals vier Nägel hängt, befindet sich auch ein großer, etwas rostiger Briefkasten. Wenn abends einige Männer mit Brot in den Tüten aus der Stadt heimkommen, werfen sie einen Blick in die Blechschachtel, um dann erleichtert ohne Brief ihren Weg ab dem Ende der befestigten Straße zu ihren angrenzenden Behausungen fortzusetzen. Wer sollte ihnen schon einen Brief schicken? Es kommen sowieso nur Rechnungen und amtliche Schreiben irgendwelcher Art. Die einen kosten Geld, die anderen Zeit. Sie haben als Hilfsarbeiter und Tagelöhner weder Geld, noch haben sie Zeit: Da der Bus aus der Stadt lediglich bei der Abzweigung ins Seitental hält, benötigen sie bis zum Haus Nr. 77 noch fast eine Stunde für den kilometerlangen Fußweg, falls sie nicht ein Bub mit dem Pferdekarren erwartet.
Trotz all ihrer selbst errichteten Unterkünfte sind jene Menschen amtlich bei der Adresse „Hauptstraße 77“ gemeldet. Es ist das Haus, das bauamtlich erfasst ist und somit offiziell existiert. Danach – so die Auffassung in der Gesellschaft – folgt der Ortsrand, die Wiesen, und weiter oben am Hang der Eichenwald. Es nahm nie jemand Anstoß daran, dass in einem ebenerdigen Haus mit drei Zimmern inzwischen 77 Menschen ordnungsgemäß gemeldet sind. Sie sind alle von Amts wegen dort postalisch erreichbar – die Ordnungsmäßigkeit ist gewahrt.
Am Ende jener Hauptstraße, die dort einfach nicht enden will und unter dem Einfluss ihrer Anwohner sich eigenwillig zum Bindeglied der menschenleeren Weide und dem belebten Dorf entfaltete, steht das Haus mit der Nummer 77, von dem niemand mehr so richtig zu sagen weiß, wer es gebaut hat oder es hat bauen lassen. Es scheint schon immer dort gestanden zu haben. Auf der Straßenseite sind dessen Mauern zum Vorgarten hin mit halbmeterbreiten Platten abgegrenzt, zwischen denen hartnäckig Gras entlang kriecht und den Putz mit etwas Grün unterstreicht. Hinter den einfach verglasten Fensterscheiben, im Halbdunkel des schwindenden Tageslichtes, befindet sich nichts als der feuchte Geruch eines Raumes, der ungeheizt deshalb nicht gelüftet wird. Seine einzige Wärmequelle befindet sich tief im Herzen der Bewohner, die nicht aufhören wollen, an ein besseres Zuhause zu glauben.
Ab und an kommt ein Reisender in das Dorf. Die meisten der wenigen Besucher interessieren sich für die alten Fresken in der Kirche. Ein Vertreter des Klerus hatte nach der unverhofften Genesung seiner Ehefrau das Gelübde erfüllt, Gott zum Dank die Kirche seiner Bauern mit Motiven des helfenden Simon und der Kreuzigung Christi auszugestalten. Dafür ließ er einen Mann kommen, den sie wegen seiner Herkunft Ioanis Greco nannten. Vermutlich aber hat er sich damit lediglich einen Namen für Sakralbauten der Region gemacht; so genau belegen es die Urkunden nicht.
Ab und an befinden sich unter den wenigen Besuchern auch Reisende, die sich nicht nur für das alte Gotteshaus interessieren, sondern auch für die Menschen an diesem von Gott vergessenen Ort, in dem die Zeit stehen geblieben scheint. Wie viele Menschen wohl dort leben?
„Nun, mein Herr, es sind 143 Haushalte in unserer Gemeinde. Wie viele Seelen da leben, das ist schwer zu sagen. Viele von ihnen sind, so wie ich, alt. Die jungen Leute haben in der Stadt Arbeit gefunden, die Kinder gehen dort zur Schule. Von hier aus sind es bis in die nächste Kleinstadt so ca. 25 Kilometer und der Bus fährt nur morgens und am späten Nachmittag. Nur jene, die ihre Tiere versorgen müssen, pendeln. Andere kommen nur am Wochenende heim; andere wiederum nur im Urlaub. Sehen Sie doch die vielen Höfe mit den geschlossenen Fensterläden. Es ist nicht leicht, hier bei uns. Und wie viele von uns hier leben? Wir sind über hundert Seelen noch im Dorf. Mein Herr, wollen Sie die Kirche sehen? Sie wurde von Greco ausgemalt!“
Reisende finden ein altes Kirchlein vor, in einem verschlafen wirkenden Dorf, auf den umliegenden Hügeln von einem Eichenwald umrahmt. Nur die Neugierigsten unter den Reisenden gehen die Hauptstraße weiter, um die Stille dieses Hundert-Seelen- Dorfes zu genießen, wenn auch diese Grabesstille nichts Gutes für das Dorf bedeutet. Das ändert sich schlagartig am Dorfrand, wo die Hauptstraße aufhört, eine Straße zu sein und ab Hausnummer 77 abrupt in einen ausgetretenen Weg übergeht. Kinder spielen dort in den Hauseingängen, aus denen manchmal laute Rufe heraus hallen. Da ist noch viel Leben. Man kann acht Hütten zählen, mit dem Haus Nr. 77 folglich neun Behausungen. Wie viele Menschen dort leben?
„Warum wollen Sie das wissen? Wer sind Sie? Haben Sie eine Zigarette für mich, eine arme Frau mit fünf Kindern?“
In den Hütten zur Hausnummer 77 leben insgesamt 77 Menschen, vielleicht auch mehr. Auf die Frage, wie viele Menschen im Dorf leben, hatte der alte Mann bei der Kirche über hundert genannt. Intuitiv hatte er die Menschen für Hausnummer 77 nicht berücksichtigt. Aber sie waren dort, am Rande des Dorfes, am Ende des Seitentales, mitten in Rumänien, dessen Kleinbauern zu den Verlierern des EU-Beitritts zählen.
Alle paar Jahre, bei Wahlen, erinnert sich der Bürgermeister in der benachbarten Verwaltungsgemeinde an diese Menschen. Mit einem Kilogramm Mehl, einem Liter Speiseöl und einem „baton“ (Riegel) Schokolade in der Tüte holt er sie zu den Wahlurnen. Schokolade ist nicht immer dabei, dafür aber dann ein Apfel aus Nachbars Garten.
Fährt man die Straße wieder zurück zur Kreisstraße, die für den Fernverkehr mit EU-Zuschüssen modernisiert worden ist, so kann man an der Abzweigung Halt machen, das Auto auf einem schön angelegten Parkplatz abstellen, und durch ein mit traditionellen Mustern verziertes Holztor das Kloster betreten, das unlängst mit Spenden aus der naheliegenden Kleinstadt saniert worden ist. Es waren Spenden der Gläubigen und eine Großspende von der Stadtverwaltung auf Initiative des Bürgermeisters, dessen Frau eine schwere Krankheit überstanden hatte, wie der Mönch stolz zu erzählen wusste.
Dieses Dorf heißt Ziegental/}ichindeal. Es ist nicht einzigartig – weder im malerischen Siebenbürgischen Hochland, noch in anderen Regionen Rumäniens. Für diese Menschen hat sich auch nach dem EU-Beitritt Rumäniens nichts geändert. Wirklich nichts? Das kann jeder Zeitungsleser selber bei einem kleinen Sonntagsausflug ins Harbachtal herausfinden, da diese Reportage zwölf Jahre alt ist. Es wird empfohlen, einige große Brotlaibe, Speck und Süßigkeiten mitzunehmen. Damit ändert man geringfügig zumindest für wenige Tage die Situation der Mitmenschen bei Haus Nr. 77.
Hinweis: Die Fotografien wurden mit ausdrücklicher Zustimmung jener Menschen gemacht. Die Privatinitiative „Elijah“ von Ruth Zenkert hat vor 13 Jahren Hygieneeinrichtungen installiert und leistet vor Ort Unterstützung bzw. Lebenshilfe. Eine Schule gibt es dort aber nicht.
Am 22. Mai 2025 meldete die ADZ auf der Titelseite: „Bildungsminister Daniel David hat den Diagnosebericht für Bildung und Forschung in Rumänien“ (QX-Bericht) präsentiert. „Daraus resultiert, dass die Hälfte der Kinder entweder gar nicht zur Schule gehen oder funktionale Analphabeten sind“. Dabei ist Rumänien ein wunderbares Land: Dort kann ein promovierter Mathematiker sogar Präsident werden. Das hat er sicherlich nicht wegen eines Wahlgeschenks bestehend aus einem Kilogramm Mehl, einem Liter Speiseöl und vielleicht einem „baton“ Schokolade geschafft, oder weil ihm ein „Mann Gottes“ im Fernsehen „RESPECT“ zurief. Noch ist Rumänien ein wunderbares Land. Damit es so bleibt, muss sich vieles ändern – vor allem, am Rande der Gesellschaft.