„Ich bin ein großer Freund feierlicher Gottesdienste “, antwortet er auf die Frage, was ihn an der Orthodoxie in Rumänien fasziniert. Gutmütig lachend schiebt er hinterher: „Da wird man ja in der evangelischen Kirche nicht gerade verwöhnt.“ 1991 reiste er zum ersten Mal mit einem Hilfstransport nach Rumänien – danach zog es ihn immer wieder her: zum Studium in Hermannstadt/Sibiu an der evangelischen Fakultät des Protestantischen theologischen Instituts, als Leiter der Evangelischen Akademie Siebenbürgen (EAS), als Herausgeber der deutsch-rumänischen theologischen Bibliothek und Mitbegründer des ökumenischen deutsch-rumänischen Instituts für Theologie, Wissenschaft, Kultur und Dialog „Ex fide lux“. 2017 ernannte ihn die renommierte Babeș-Bolyai-Universität Klausenburg/Cluj-Napoca zum „Professor honoris causa“. Er liebt es, spannende Kontakte zu knüpfen, pflegt Freundschaften in alle Konfessionen. Was ihn an Rumänien fesselt? „Alles!“ begeistert sich der evangelische Pfarrer Dr. Jürgen Henkel aus Selb. „Die Welt, die Menschen, die tiefe Verwurzelung, mit der Religion – was mich freut als jemand, der in Deutschland den Verfall des christlichen Glaubens miterleben muss.“
Pfarrer wurde er aus Berufung. Doch schon immer hatte ihn auch die wissenschaftliche Theologie interessiert. Während des Studiums mit der orthodoxen Liturgie in Berührung gekommen – „Sfânta Liturgie“, auf Deutsch „göttliche Liturgie“ - war er sofort fasziniert: „In diese Welt muss ich eintauchen!“ sagte sich Jürgen Henkel. Den Weg bereitete ihm akademisch sein Doktorvater, der renommierte Ostkirchenkundler Karl Christian Felmy, aber auch die Kontakte, die er als Student auf seiner ersten Rumänienreise knüpfen konnte. Eine schicksalhafte Reise, die ihn für immer an dieses Land binden sollte...
Ankerwurf nach Rumänien
Wir sitzen im strahlenden Sonnenschein im Garten des Büchercafes Erasmus. „Meine Ruheoase, immer wenn ich in Hermannstadt bin“, verrät Jürgen Henkel. Während er seinen Eiscafe schlürft, klingelt das Telefon dreimal, Mitreisende unterbrechen ihn mit Fragen, hinter der Mauer kreischen Schulkinder und am Nebentisch brüllt ein Baby. Doch er sitzt da, unerschütterlich wie ein Fels in der Brandung, erzählt, gestikuliert , versprüht gute Laune und Lebensfreude. „Zufällig kaufte ich damals eine deutsche Zeitung, die Hermannstädter“, erinnert er sich. Darin stand: Wer will Theologie in Hermannstadt studieren? „Ich!“ ruft er theatralisch und reißt den Zeigefinger hoch. Berichtet, wie er sofort die Fakultät kontaktierte. „Sie sind uns willkommen“ hieß es dort. Aus dem geplanten Auslandsstudienjahr wurden zwei, 1993 bis 1995 verbrachte er in Siebenbürgen, studierte evangelische Theologie unter Prof. Paul Philippi, „einem der bedeutendsten Diakoniewissenschaftler“ und dem Ostkirchenkundler Prof. Hermann Pitters, der ihm durch seine Übersetzungen der orthodoxen Dogmatik von Dumitru St˛niloae ein ganz neues Universum eröffnete. Reizvoll erschien ihm auch, dass man bereits ab dem dritten Studienjahr Gottesdienste halten durfte. „Mal war ich in Bistritz, mal in Großalisch, die ganzen Kirchenburgen hab ich besucht“, begeistert sich Henkel. Ausreichend Gelegenheiten gab es auch für die Vertiefung der Beziehungen zur Orthodoxie: Seit 1996 ist Jürgen Henkel ehrenamtlicher persönlicher Referent des rumänischen orthodoxen Metropoliten Serafim für das Verhältnis der Kirche zum Staat in Deutschland und Übersetzer der Metropolie; die Patriarchen Teoctist und Daniel hat er auf drei Auslandsreisen als offizieller Dolmetscher begleitet, hat unzählige Reden, Predigten und auch Bücher übersetzt. Schließlich heiratet der evangelische Pfarrer sogar noch „die Orthodoxie“: In der Marginimea Sibiului lernte er seine heutige Ehefrau Elena kennen, eine orthodoxe Rumänin.
Nach dem Vikariat erhält er die einzigartige Chance, die EAS von 2003 bis 2008 als entsandter deutscher Pfarrer zu leiten. Die kreative, interdisziplinäre, interethnische, ökumenische Arbeit war dem rührigen Theologen auf den Leib geschrieben. Zurück in Bayern, wo er seither in Selb als Gemeindepfarrer fungiert, initiierte er schließlich die Gründung von „Ex fide lux“ als Plattform für die begonnene ökumenische Arbeit.
Vom Islam zur orthodoxen Ethik
Rumänien besucht Jürgen Henkel nach wie vor mehrmals im Jahr. Wenn seine Frau mitkommt und Verwandte und Freundinnen abklappert, reißt er sich manchmal los und tourt alleine durchs Land. Siebenbürgische Kirchenburgen, die Moldauklöster, Bukarest, die Dobrudscha... Was liegt näher, als über all dies zu schreiben? Der Pfarrer, der auch über Journalismuserfahrung verfügt, hat mittlerweile 18 Bücher als Herausgeber oder Mitherausgeber verfasst. 2016 überrascht er mit der Vorstellung eines besonders ungewöhnlichenWerks: „Halbmond über der Dobrudscha. Der Islam in Rumänien“. „Der Islam ist kein Zündstoff in der Dobrudscha“, stellt er darin fest. Ausdrücklich distanziert man sich von versuchter Einflussnahme durch Fundamentalisten, erklärt ihm auch das Oberhaupt der muslimischen Gemeinschaft in Rumänien, Mufti Yusuf Murat, der ihm ein ausführliches Interview gewährt. „Das Thema hat mich fasziniert, weil die Muslime hier anders sind als in Deutschland“ erklärt Jürgen Henkel. Es gibt keine Schleierpflicht, keine Berührungsängste – bei seinen Recherchen wird der evangelische Pfarrer von den Imamen überall freundlich empfangen. Und selbstverständlich steht das staatliche Recht über der Scharia. „Sowas hör ich in Deutschland nicht von muslimischen Vertretern. Dort erleben wir eine Anbiederung gegenüber dem Islam. Hier kann man erleben, dass das keine Einbahnstraße ist.“
Ein Thema, das nicht konträrer sein könnte, präsentiert er ein Jahr darauf: Mit dem Wälzer „Dumitru Stăniloae. Leben, Werk, Theologie“ stellt er auf 560 Seiten einen der wichtigsten orthodoxen Theologen des 20. Jahrhunderts vor. Stăniloae hatte ihn schon während des Studiums in Hermannstadt fasziniert. „Mein Kirchengeschichte-Professor Hermann Pitters hatte 1985 dessen gesamte Dogmatik ins Deutsche übersetzt“ erklärt er und fügt begeistert an: Ich habe diese Dogmatik regelrecht verschlungen!“
Was ihn an Stăniloae faszinierte, war einerseits die Herangehensweise: „Er stellt die orthodoxe Position profund von den Kirchenvätern dar, vergleicht aber immer mit westlichen Theologen, Philosophen und sogar Psychologen“. Andererseits fesselte ihn der Dialog, den Stăniloae in seinen Büchern mit den Kirchenvätern führte, „als wären sie noch am Leben! Das finde ich fast modellhaft. So etwas ist für einen westlichen Theologen schon interessant“, bekennt Henkel. Vor allem, weil sich die evangelische und katholische Theologie kaum noch an den Kirchenvätern orientiert. Schade findet er allerdings, dass Stăniloae, der 60 Jahre lang veröffentlicht und alle westlichen Größen umfangreich zitiert hat, selbst im Westen kaum erwähnt wird.
Pfarrer Henkel erhielt die Chance, dies ein wenig zu ändern: „Viele gute Ideen entstehen bei einem Glas Wein – das dürfen Sie ruhig zitieren!“, ruft er gutgelaunt. Bei griechischem Essen und Wein auf einer Seminareinladung hatte sich eine lebhafte Diskussion mit seinem früheren Ethik-Professor aus Erlangen entsponnen. Beide stimmten überein, dass es kaum wissenschaftliche Darstellungen orthodoxer Ethiker gäbe, es jedoch interessant wäre, gemeinsame Fundamente oder Unterschiede in der Argumentation zu kennen. „Die Idee am Ende des Abends war dann, dass das meine Doktorarbeit wird!“
Vom Islam in der Dobrudscha zu Stăniloae – selbst zwischen diesen konträren Themen lässt sich in Rumänien ein Bogen spannen: So mag der erstaunte Leser des erstgenannten Buches entdecken, dass der Mufti seine Doktorarbeit an der orthodoxen Fakultät Konstanza absolviert hat, zum Thema Menschenrechte im Islam und im Christentum...
Spannende Themen für die Zukunft
Wen wundert es, dass ausgerechnet das erste dreikonfessionelle, ökumenische deutsch-rumänische Kolloquium – „Heilige und Heiligenverehrung in Ost und West“ (ADZ vom 19. und 22. Mai: „Auf dem Weg zur christlichen Einigkeit“; „Moderne Christenverfolgung – Märtyrer von gestern und heute“) diesen Monat in Rumänien stattfand? Und dass der Ideengeber, Koordinator und Moderator Jürgen Henkel heißt? „Wir hatten mit ca. 50 Teilnehmern gerechnet – an die 80 meldeten sich an!“, freut sich dieser über das breite Interesse. Ein Kolloquium dieser Art im Jahr und ein bis zwei kleinere Projekte strebt „Ex fide lux“ auch für die Zukunft an. Es gibt schon zwei Themen, die konkret ein wenig aufbereitet wurden, verrät Henkel. „Wie politisch darf Kirche sein?“ lautet das erste und befasst sich mit der in Deutschland derzeit stark diskutierten Frage, inwiefern sich die Kirche in tagespolitische Themen einmischen darf. Im zweiten, „Diktatur des Kapitalismus“, geht es um die Gefährdung des Christentums durch die Konsumgesellschaft. „Von der kommunistischen Ideologie zur konsumistischen Idiotie“ übersetzt es Henkel in seinem eigenen, flapsigen Stil. Darin soll es auch um Antworten der jeweiligen Kirchen auf Basis ihrer Sozialethik gehen: Wie verhält sich die Botschaft Gottes im Verhältnis zu dem, was es auf Erden gibt – Kapital, Eigentum, Person, Arbeit? Welchen Anspruch hat die Kirche, dafür Normen und verbindliche Orientierungen vorzugeben? „Die profilierteste Position dazu hat die katholische Kirche“, erklärt Henkel und zitiert sinngemäß Papst Johannes Paul II: Die Arbeit sei für die Menschen da, nicht der Mensch für die Arbeit. „Das kann man entlangspannen an allen Fragen – soziale Gerechtigkeit, Ausbeutung und Dritte Welt, Niedriglohnarbeit, Stress, Burnout“, begeistert er sich. Er hat wahrlich das Talent, mitzureißen. Unwillkürlich denkt man: In die Welt muss ich eintauchen!