Ion Iliescu, der letzte Genosse

Ein Leben zwischen System und Systemwechsel

Zählt Iliescu zu den ehemaligen Sozialisten, die den demokratischen Rechtsstaat aus Überzeugung annahmen oder war sein Wandel nur ein taktischer? Das Archivfoto von 2010 zeigt Ion Iliescu bei einem Treffen mit Michail Gorbatschow. | Foto: Agerpres

Als 1989 die kommunistischen Regime Europas kollabierten, erkannte er die Zeichen der Zeit zu spät. Bild aus dem Sitz des Zentralkomitees am 23. Dezember 1989. | Archivfoto: Agerpres

Der am Dienstag mit 95 Jahren verstorbene Ion Iliescu war einer der letzten Politiker Europas, des sen Karriere in einem stalinistischen System begann und in einer Demokratie endete – und genau das macht seine Biografie so außergewöhnlich wie ambivalent. Geboren 1930 in Oltenița in einer kommunistischen Familie, wurde er früh in das System der Partei integriert: Moskauer Studium an der Energetischen Hochschule, dann Rückkehr in den Aufbauapparat des rumänischen Kommunismus. Er galt zunächst als Hoffnungsträger einer jüngeren Generation, protegiert von Gheorghe Gheorghiu-Dej, dann für eine Weile auch von Nicolae Ceaușescu selbst. Doch Iliescu war kein Apparatschik im klassischen Sinne. Er dachte, las, hatte intellektuelle Ambitionen und eckte an. Ab den 1970er Jahren verlor er sukzessive an Einfluss, wurde von Ceaușescu ins politische Abseits manövriert und landete in zweit- und drittrangigen Posten, unter anderem als Leiter des Technischen Verlags. Doch Iliescu blieb im Orbit der Macht – und wartete.

Der Idealist, der zu lange glaubte

Iliescu gehörte zu jener Generation osteuropäischer Kader, die den sowjetischen Sozialismus nicht nur aus Karrieregründen vertraten, sondern auch als geschichts philosophisches Projekt verinnerlicht hatten. Als 1989 die kommu nistischen Regime Europas kollabierten, zögerte er – nicht in seiner Machtübernahme, wohl aber in der ideologischen Neuausrichtung. Er erkannte die Zeichen der Zeit zu spät. Während in Polen und Ungarn bereits liberale Kräfte das Ruder übernahmen, schien Iliescu noch auf Reformen im Geiste Gorbatschows zu hoffen – eine Art „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, ein dritter Weg, der sich rasch als Illusion entpuppte. Iliescu– ein verspäteter Alexander Dubcek, ein Möchtegern Gorbatschow? Die Implosion der Sowjetunion war für Iliescu keine Befreiung, sondern eine Entzauberung. Er blieb ein Sozialist – vielleicht kein Kommunist im dogmatischen Sinne, aber auch kein Konvertit zur freien Marktwirtschaft. Die soziale Frage, die Bedeutung öffentlicher Dienstleistungen, das Ideal des solidarischen Staates – all das blieb ihm wichtig. Doch gerade diese Orientierung ließ ihn in den 1990er Jahren ideologisch alt aussehen. Während um ihn herum neoliberale Eliten aufstiegen und der „Washington Consensus“ zur außenpolitischen Doktrin wurde, wirkte Iliescu zunehmend wie ein Relikt aus einer untergegangenen Zeit. Man fragt sich bis heute, ob Iliescu zu den „Geläuterten“ gezählt werden kann – jenen ehemaligen Sozialisten, die den demokratischen Rechtsstaat schließlich doch annahmen, nicht nur als Form, sondern als Überzeugung. Oder war sein Wandel nur taktisch, eine historische Improvisation? Seine Spätreden deuten auf eine gewisse innere Wandlung hin – aber nie auf eine fundamentale Revision. Er blieb ambivalent: halb Technokrat, halb Gläubiger einer untergegangenen Utopie.

1989–1996: Architekt der kontrollierten Revolution

Als das Ceaușescu-Regime im Dezember 1989 unter dem Druck von Massenprotesten zusammen brach, war Iliescu zur Stelle. Er sprach das richtige Vokabular: von Freiheit, Demokratie, Wärme in den Wohnungen und Lebensmitteln im Kühlschrank. Die Fernsehbilder zeigten einen ruhigen, anscheinend rationalen Mann, der den Tumult zu kanalisieren wusste. Doch die Revolution war keine tabula rasa. Die Front der Nationalen Rettung, die Iliescu formte, bestand zu großen Teilen aus ehemaligen Parteikadern. Die neue Macht war eine alte, neu verpackt. Zudem wollte Iliescu den Draht nach Moskau schnell wiederherstellen, dessen Verbindung unter dem autarkeren Ceaușescu bekanntlich gestört war. Die Jahre bis 1996 zeigen Iliescu als Mann des Übergangs – doch nicht des Bruchs. Zwar wurde ein Mehrparteiensystem eingeführt, doch die alte Elite sicherte sich Ressourcen, Netzwerke und Institutionen. Die blutigen Mineriaden von 1990 und 1991, bei denen aufgebrachte Bergarbeiter auf Protestierende und Oppositionelle losgingen – mit direkter oder indirekter Billigung Iliescus –, offenbarten die autoritären Reflexe seiner Herrschaft. Es dominierte eine Politik der „kontrollierten Öffnung“, nicht der echten Demokratisierung.

Gleichzeitig ließ Iliescu gewisse Freiheiten zu: Die Medienlandschaft konnte sich entfalten, die Justiz begann langsam, ihre Unabhängigkeit zu reklamieren, gut vernetzte Securitate-Mitarbeiter, Direktoren staatlicher Unternehmen und viele andere begannen, Vermögen anzuhäufen. Obwohl Iliescu der neue Kapitalismus nicht gefiel und er mit dem Privateigentum fremdelte, ließ er sie alle gewähren. Die Guten genauso wie die Bösen. Aber stets unter der stillen Bedingung, die Vergangenheit nicht zu tief zu hinterfragen. Das Konzept der Versöhnung statt Aufarbeitung wurde zur ideologischen Grundmelodie seiner Amtszeit.

Iliescus Ziehkinder verlorene Generationen?

Iliescu war nicht nur Machtpolitiker, sondern auch Mentor - zumindest anfangs. Um sich herum formte er eine neue Parteielite, die aus der FSN hervorging und später unter verschiedenen Namen – PDSR, PSD – die rumänische Linke dominierte. Die bekannteste Figur dieser zweiten Generation war Adrian Năstase, Premierminister von 2000 bis 2004. Năstase war gebildet, rhetorisch versiert, international erfahren. Doch er war auch eitel, autoritär, von einer Selbstgewissheit durchdrungen, die am Ende zur Hybris wurde. Seine Verurteilung wegen Korruption besiegelte den moralischen Bankrott einer ganzen politischen Schule. Daneben traten Figuren wie Viorel Hrebenciuc, Miron Mitrea oder Dan Ioan Popescu – allesamt geschickt im Taktieren, aber oftbar jeder staatsmännischen Vision. Wo Iliescu noch einen gewissen intellektuellen Tiefgang bewahrte, ein historisches Bewusstsein für die Tragweite politischer Entscheidungen, folgte bei seinen Nachfolgern oft nur noch pragmatischer Machter halt, gepaart mit kurzfristigem Opportunismus. Es ist eine bittere Ironie: Iliescu, der selbst ein Produkt des Apparats war, überragte seine Zöglinge in Bildung, Reflexionskraft und strategischem Gespür bei Weitem. Nach ihm ging es – in haltlich wie moralisch – stetig bergab. Die PSD wurde von einer Partei mit historischem Anspruch zu einer Verwaltungsmaschine, deren Eliten nicht mehr Politik machten, sondern sie lediglich verwalteten. Die Generation Iliescu hatte noch eine Idee von Staatlichkeit, auch wenn sie diese oft missbrauchte. Die Generation Năstase und die späteren hatten nur noch das Werkzeug und nutzten es für sich selbst.

2000–2004: Der späte Patriarch

Nach einer Übergangsphase unter dem reformorientierten Emil Constantinescu kehrte Iliescu im Jahr 2000 zurück an die Spitze des Staates. Diesmal trat er staatsmännischer auf: älter, ruhiger, mit betonter Distanz zu parteipolitischem Getöse. Doch auch diese letzte Amtszeit offenbarte die Ambivalenz des Mannes. Außenpolitisch präsentierte sich Rumänien nun entschlossen europäisch und NATO-kompatibel der EU-Beitritt wurde vorbereitet, die Institutionen modernisiert. Damals verstand Iliescu, dass es keine Alternative gibt und er tat, was er tun musste: Er versöhnte sich mit dem ehemaligen König, gab ihm Schlösser und Gutshäuser zurück, er verurteilte öffentlich die Teilnahme Rumäniens am Holocaust und wurde zu einem anständigen Gesprächspartner des Westens. Hätte er all das zwischen 1992 und 1996 getan, wäre Rumänien deutlich schneller dort angekommen, wo es heute ist. Aber damals waren weder er noch das Volk so weit. Innenpolitisch jedoch blieb Iliescu ein Pragmatiker der alten Schule. Korruption wurde selten konsequent verfolgt, die Strafjustiz blieb selektiv. Kritiker werfen ihm bis heute vor, den „tiefen Staat“ – das dichte Netz aus Politik, Justiz, Geheimdienst und Oligarchie – bewusst mitgetragen zu haben. Seine Begnadigungspraxis (z. B. für den Anführer der Bergleute, Miron Cozma) und sein langes Schweigen zu den Revolutionsverbrechen verstärkten das Gefühl: Hier herrschte einer, der lieber vergisst als erinnert. Iliescu versuchte nie, sich selbst zu historisieren. Er blieb bis zuletzt überzeugt davon, „das Notwendige“ getan zu haben. Dass diese Notwendigkeit selten mit der moralischen Wahrheit übereinstimmte, schien ihn wenig zu kümmern.

Zwischen Stabilität und Stagnation

Ion Iliescus Vermächtnis ist tief gespalten. Für die einen war er der Garant des friedlichen Übergangs – ein Mann, der ein Bürgerkriegsrisiko bannte, die Grundlagen einer Demokratie legte und die chaotischen 1990er stabilisierte. Für andere war er der Saboteur eines echten Neuanfangs – ein alter Kader, der die Revolution in Geiselhaft nahm, um den Elitenwechsel zu verhindern. In Wahrheit war Iliescu beides: Stabilisator und Verhinderer. Ein Politiker, der Institutionen aufbaute, aber zugleich in ihrer Schwäche badete. Ein Mann, der das Land in den Westen führte, aber mit einem Fuß im Osten blieb nicht unbedingt geopolitisch, aber sicherlich mental. Seine größte politische Leistung war womöglich, Rumänien im postkommunistischen Raum nicht in den Autoritarismus abrutschen zu lassen. 1996 gab er die Macht demokratisch und zivilisiert ab. Aber sein größtes Versäumnis war, das autoritäre Erbe nicht offensiv bekämpft zu haben. Ion Iliescus Tod – lange erwartet, oft herbeigeschrieben – markiert nicht nur ein biografisches, sondern auch ein kulturelles Ende. In einer politischen Kultur, die stark auf Personen fixiert ist, symbolisiert sein Ableben auch den Abschied von der Generation der „wandelbaren Genossen“: Männer, die den Mantel der Geschichte trugen, ohne ihn wirklich abzustreifen. Doch solange Iliescus Vergangenheit nicht vollständig aufgearbeitet wird, lebt sie in der Gegen wart fort – in den informellen Machtstrukturen, im institutionellen Zynismus, in der selektiven Erinnerungspolitik. Die Revolution von 1989 ist in Rumänien nie zu Ende gegangen – sie wurde nur vertagt. Mit dem Tod Iliescus beginnt nun ihre eigentliche Deutung. Ion Iliescu war kein Tyrann wie sein Vorgänger Nicolae Ceaușescu. Aber er war auch kein Demokrat. Er war – vielleicht – der letzte Genosse, der das Land mit weicher Hand in die Moderne führte, ohne sich selbst jemals von der Vergangenheit zu lösen. Und vielleicht auch einer der letzten, der zumindest noch dachte, bevor er regierte.