Montag abend, als Abschluss der „Tage von Großsanktnikolaus“, der alljährlichen mehrtägigen Veranstaltung der Stadt, gab es ein zweites Ereignis, das man so der Kleinstadt nicht zugetraut hätte. Das erste war die Eröffnung, am vergangenen Freitag, als erstmals in der bereits gut 25-jährigen Geschichte der Bartók-Veranstaltungen der Stadt (inzwischen, so der Initiator und Leiter des „Pro Bartók“-Vereins, Apotheker Sándor Tamás, war es das 71. Erinnerungskonzert) ein Abend mit Vokalmusik veranstaltet wurde.
Und zwar präsentierte sich, aufgrund der Einladung des Vereins und dessen musikalischem Leiter, dem Pianisten und Hochschullehrer Dr. Ferenc Kerek vom Konservatorium in Szegedin, die Ungarische Akademie der Künste (MMA), angeführt von ihrem Generalsekretär Dr. Gábor Richly, mit einigen der Sieger des Nationalen Ungarischen Nachwuchs-Sängerwettbewerbs 2024, den (bereits in ganz Europa gebuchten) Opernsängern Szilvia Szilágyi, Ferenc Endrész und Àdám Dávid Pete (der Vierte, Péter Bodolay, musste kurzfristig krankheitsbedingt absagen), aber auch mit der sympathischen Solistin des BBC-Chores von Wales/Großbritannien (die auch die originelle Moderation bestritt), Elisabeth Sillo, und der Jury-Vorsitzenden des Nationalen Sängerwettstreits „Simándy József“ von Ungarn, Mária Temesi (Sopran).
Das einzige, was bei diesem Ausnahmekonzert nicht stimmte, war der räumlich einfach zu kleine Saal des Nákó-Kastells, der mit der Amplitude der Stimmen nicht zum Harmonieren gebracht werden konnte. Aber er war gerammelt voll und das Publikum – etwas über die Hälfte aus Ungarn speziell zu diesem Anlass angereist – ging mit einem typisch ungarischen „Vasstaps“ genannten rhythmischen Beifallklatschen mit. Denn selbst die Klavierbegleitung sicherten zwei Ausnahmekünstler aus dem sechs Kilometer Luftlinie entfernten Nachbarland: Marianna Vékely, Bartók- und Pásztori-Preisträgerin und Dr. Ferenc Kerek, Weiner- und Liszt-Preisträger.
Überraschend mehr als voll (neben den 110 Stühlen gab es noch zahlreiche später Angekommene, die zwei Stunden stehend dabei waren) war derselbe Saal auch beim Abschluss des Stadtfests. Keiner der Veranstalter war darauf vorbereitet, bei zwei Buchvorstellungen und einer erstmals organisierten Ausstellung mit Büchern geschätzt 120-130 Teilnehmer anzutreffen.
Vorgestellt wurden die Debütbände mit Lyrik von Cristina Pichler (geb. Moț), die in den 1990er Jahren als Altenpflegerin nach Österreich ging und heute mit ihrem Mann, einem Österreicher (sie haben auch einen Sohn und eine Tochter) in der Steiermark, unweit Graz lebt. Ihre mehr als 200 Gedichte, geschult in klassischer rumänischer Poesietradition, erschienen in den Bänden „Povestea unei frunze“ und „Suflet călător” im PIM-Verlag, Jassy 2025, und wurden von Ana Kremm vorgestellt. Cristina Pichler, die vor ihrer Arbeits- und (letztendlich) Lebensemigration in Großsanktnikolaus in einer (heute nicht mehr existierenden) Strumpffabrik arbeitete, hatte zahlreiche ehemalige Arbeitskollegen und viele ihrer Verwandten im Saal – wahrscheinlich manche unter ihnen erstmals bei einer Buchvorstellung – dabei. Und sie hatte auch vier Kinder aus der Nachbarschaft ihres Wohnhauses in Großsanktnikolaus für den Vortrag einiger ihrer Gedichte trainiert. Beides, Bekanntenkreis und Kinder, ergab Atmosphäre und viele Blumensträuße.
Schwerpunkte der Veranstaltung waren aber die Ausstellung der Bücher, deren Autoren oder Sujets etwas mit Großsanktnikolaus zu tun haben, sowie das Bărăgan-Deportationsbuch des Ehepaars Dr. Sergiu und Dr. Romina Soica, „Neuitata zi de 18 iunie 1951“. Der Titel ist ein Zitat aus dem Tagebuch der bei der Verschleppung 14-jährigen Emilia („Milly“) Munteanu, das jahrelang auf dem Dachboden ihres Wohnhauses in der Deutschen Gemeinde versteckt war und von ihrem Enkel, einem kulturell inte-ressierten Angestellten des Rathauses Großsanktnikolaus, jetzt zur Veröffentlichung freigegeben wurde. Das Buch an sich umreißt den sozio-politischen Rahmen der zweiten großen Deportationswelle des kommunistisch gewordenen Rumänien (nach der Russlandverschleppung), die mehr als 40 Menschen aus 202 Ortschaften in einer 25-km-Tiefe parallel zur rumänisch-jugoslawischen Grenze zwischen 1951-1956 betraf, bringt zahlreiche Dokumente in Faksimile über das Deportationsgeschehen und das staatliche (und private) Ausrauben des Vermögens der Deportierten, das überraschend gut geschriebene Tagebuch der Milly Munteanu im Alter von 14 bis 19 Jahren und ein langes Interview mit der 88-jährigen Aristia Groza, der als 14-Jährige deportierten Mutter des heutigen Bürgermeisters von Großsanktnikolaus.
Die Idee der Sammlung und Ausstellung von Büchern von Autoren, die etwas mit Großsanktnikolaus zu tun haben, hier geboren wurden, hier leben (im Saal waren zehn solcher Autoren anwesend), hier zur Schule gingen, über Großsanktnikolaus schrieben usw., hatte Kulturhausdirektor Dr. Sergiu Soica (ein studierter Theologe und Absolvent des Temeswarer römisch-katholischen Gerhardinums, dessen Familie aus Großkomlosch-Lunga stammt). Mit Unterstützung des Ortsforums Großsanktnikolaus (Dietlinde Huhn, unterstützt vom Autor dieses Berichts) und auch mehrerer Vertreter von Kirchen und Vertretern anderer Minderheiten (deren Reaktion auf Dr. Soicas Appelle allerdings ziemlich verhalten war) kam kurzfristig eine beeindruckende Bücherschau zusammen. Zu sehen sind jetzt noch eine Woche lang u.a. sämtliche Bücher von Bischof emeritus Martin Roos (inzwischen ein ganzer Tisch eleganter und gehaltvoller Bücher, an denen künftige Forscher- und Übersetzergenerationen noch viel Arbeit haben werden – die Wurzeln der Familie Roos sind in Großsanktnikolaus), aber die Diözese Temeswar stellte auch eine Originalhandschrift des Piaristenpaters und Begründers der ungarischen Grammatik, des aus Großsanktnikolaus stammenden Miklós Révai, zur Verfügung, nach dem die Enzyklopädie des Ungarischen „Révai-Lexikon“ benannt wurde – ausgestellt ist die von Révai recherchierte und zusammengestellte, in Schönschrift redigierte Liste der Bischöfe der Diözese Tschanad, bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts.
Zu sehen sind auch zahlreiche Bücher der in Großsanktnikolaus zur Schule gegangenen und hier als Kern zusammengefundenen „Aktionsgruppe Banat“ – Richard Wagner, William Totok, Johann Lippet, Werner Kremm, Anton Sterbling –, aber auch ihrer Studienkollegin, der Germanistin Marianne Marki oder ihrer ihr Leben bestimmenden Deutsch- und Klassenlehrerin Dorothea Götz, oder der Schwestern Annemarie (Podlipny-) Hehn und Ilse Hehn, deren Vater der Fotograf nahezu aller Jahrgänge der in Großsanktnikolaus 1950-1975 Geborenen war. Natürlich sind auch die zahlreichen lokalgeschichtlichen Studien von Lothar Blickling oder Hans Haas zu sehen, die solide recherchierten Bücher, die die Handschrift von Peter-Dietmar Leber tragen. Auch Sigrid Kuhn zeigt ihre Übersetzungen und die zweisprachige Chronik von Perjamosch in der Ausstellung.
Wer genügend Geduld zum Herumblättern mitbringt, kann in dieser Ausstellung auch Bücher des Futurologen Ion Hobana ansehen, des rechtspopulistischen Gheorghe Funar (Ex-Bürgermeister von Klausenburg...), des ehemaligen Chefredakteurs der Temeswarer „Rena{terea Bana]eana“ Teodor Bulza, serbischer, bulgarischer, ungarischer Autoren usw. usf.
Der Montagabend öffentlich gemachte Vorschlag, sämtliche erreichbaren Bücher dieser Ausstellung – und vielleicht noch weitere, die inzwischen dazukommen könnten – in einem Bücherkatalog zusammenzufassen, griff der von Anfang und bis zum Ende der Veranstaltung anwesende Bürgermeister der Stadt, D²nu] Groza, sofort auf und fragte pragmatisch, was das kosten würde: die Stadt würde den Katalog sofort drucken und von Zeit zu Zeit aktualisieren und das Resultat als Präsent für Gäste nutzen, schließlich sei Großsanktnikolaus nach der Wende nicht nur zu einem potenten Wirtschaftszentrum gewachsen, sondern habe auch – die Ausstellung beweist es! – auf kulturell-geistiger Ebene etwas zu bieten. Mehr, als man gemeinhin vermuten würde.