Alfred Brendel, einer der „größten lebenden Pianisten“ („Die Zeit“), besuchte im September Bukarest, um in der Nationalen Musikuniversität die Ehrendoktorwürde in Empfang zu nehmen und im Athenäum einen Vortrag über „Charaktere in Beethovens Klaviersonaten“ zu halten. Der österreichische Pianist, der Anfang dieses Jahres 80 geworden ist, hatte sich schon im Dezember 2008 vom Konzertleben verabschiedet. Seither bleibt er als Redner, Vorleser und Klavierpädagoge aktiv.
Als Sechsjähriger nahm er die ersten Klavierstunden in Zagreb. Wenige Jahre später übersiedelte seine Familie nach Graz, wo der junge Brendel Klavier und Komposition studierte. Ab seinem sechzehnten Lebensjahr entwickelte er sich musikalisch nur noch als Autodidakt sowie als Meisterkurs-Schüler bei Paul Baumgartner und vor allem bei Edwin Fischer. 1947 legte er extern an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien im Fach Klavier die Staatsprüfung ab. Seine internationale Karriere, in der er ganze sechs Jahrzehnte lang weltweit die größten Erfolge feiern sollte, begann 1949, als er im „Busoni“-Wettbewerb einen Preis erhielt. Seit den siebziger Jahren lebt er in Großbritannien.
Berühmt ist Brendel nicht nur für die allererste Einspielung – in der Musikgeschichte! – sämtlicher Klaviersonaten von Beethoven (1960, dann 1970 und 1996), sondern ebenso für seine Interpretationen der Klavierwerke von Schubert, Mozart und Liszt. Als Liedbegleiter arbeitete er u. a. mit Dietrich Fischer-Dieskau zusammen; vor wenigen Jahren nahm er mit seinem Sohn, dem Cellisten Adrian Brendel, die Cellosonaten von Beethoven auf. Literatur betrachtet Alfred Brendel als „seine zweite Existenz“: Er ist Essayist („Nachdenken über Musik“, „Musik beim Wort genommen“), Dichter („Ein Finger zuviel“) und seit 2009 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Zudem ist er Träger zahlreicher Auszeichnungen und Ehrendoktor der Universitäten (bzw. Hochschulen) von London, Oxford, Yale, Weimar – nun auch der Musikuniversität Bukarest.
Hier hielt am 11. September die Pianistin Dana Borşan die Laudatio. Sie hob die Eigenschaften hervor, die aus Brendel eine „Inspirationsquelle für ganze Generationen von Pianisten“ gemacht haben: das Raffinement, den Reichtum der Klangfarben, die klangliche Orchestrierung am Klavier. „Alfred Brendel hat seinen künstlerischen Aufstieg nicht forciert. Er hatte Geduld und Vertrauen, die Vorahnung seiner Begabung, gleichzeitig die ihm bewusste Verantwortung der Musikerberufung“, sagte die Laudatorin. In Bezug auf das Repertoire hieß es: „Alfred Brendel spielt ALLE wichtigen Klavierwerke, von Bach bis zur Wiener Klassik und der deutschen Romantik, von Strawinsky, Mussorgski, Bartók, Prokofjew, Schönberg und Busoni bis hin zu Konzerten zeitgenössischer Komponisten.“ Brendel, eine „Renaissance-Persönlichkeit“, begeistert von Malerei, Architektur, Skulptur, Theater oder Film, wird vom Musikkritiker Joachim Kaiser als „tiefsinnigster Pianist unserer Tage“ beschrieben. Jedoch betrachte Brendel Instinkt und Affekt als „das A und O der musikalischen Interpretation“, so Dana Borşan.
Schon vor vier Jahrzehnten, im Jahre 1970, war er zum ersten Mal in Bukarest im Athenäum aufgetreten, damals als Solist in Mozarts Klavierkonzert KV 595. Am 12. September 2011 sprach er nun von derselben Bühne über Beethovens Klaviersonaten, „deren Charaktere immer sowohl eine psychologische, als auch eine moralische Komponente einschließen.“ Jede der 32 Klaviersonaten habe einen einzigartigen Charakter – was Brendel meisterhaft anhand rhythmischer, melodischer, harmonischer und polyphonischer Beispiele am Klavier bewies. Leider dürfte dieser Teil des Vortrags der einzige für alle Zuhörer verständliche gewesen sein – denn das Gesprochene wurde aus dem Englischen nicht übersetzt. Brendel präsentierte Struktur und Charakter als „wesentliche, komplementäre Schlüsselkonzepte im Aufbau einer authentischen Interpretation“ und betonte, dass „die musikalische Wahrheit stets innerhalb der Musik und in uns selbst“ gesucht werden müsse. In ähnlichem Ton hatte der Maestro 2008 in einem „Zeit“-Interview gesagt: „Bei den Meisterwerken geht es darum, mit ihnen zu leben. In Abständen muss man auf sie zurückkommen und eine Kette von Erfahrungen aufbauen. Wirkliche Meisterwerke sind unerschöpflich und ewig sprudelnde Energiequellen für den Spieler. Das ist ja das Wunderbare, dass man mit großer Musik sein Leben verbringen kann – und es bleibt immer spannend!“