Wenn man Streifzüge durch Hermannstadt/Sibiu unternimmt, trifft man sie irgendwann. In einem Café oder irgendwo auf den malerischen Plätzen der verwinkelten Innenstadt. Im Café „Arhiva“ neben dem Großen Ring sitzt sie morgens oft mit einem Notizheft, schreibt Gedanken auf und plant ihren Tag. Wie auch an diesem Morgen. Ab und an grüßt sie Bekannte, wechselt einige Worte mit denen, die vorübergehen. Die Mode-Designerin Anamaria Șut ist eine der Künstlerinnen, die in Hermannstadt ihr Atelier hat und die die Künstlerszene mitgestaltet.
„Als ich damals zurück in die Stadt kam, gab es hier nur Ingenieure und mich“, sagt sie eingangs und kichert verhalten. Das war 2012. Damals war die Künstlerszene in Hermannstadt noch nicht so ausgeprägt wie jetzt. Nach ihrem Studium in Klausenburg/Cluj-Napoca, dem Entwurf mehrerer Kollektionen und einer beruflichen Station in Brüssel, bei der sie bei Jessie Lecompte Einblicke erhielt, einer Schülerin ihres Lieblingsdesigners Dries Van Noten. Den belgischen Designer bewundert Anamaria Șut besonders dafür, dass er es geschafft hat, mit seiner eigenen Marke unabhängig zu bleiben: „In seinen Designs ist immer etwas Handgefertigtes mit dabei. Diese Kleidungsstücke sind nie langweilig.“
Überhaupt spielt Handfertigung für Anamaria Șut eine besondere Rolle. Sie ist prägend für Individuen wie auch für Gemeinschaften: „Handarbeit ist heute teuer. Vieles, was früher per Hand gefertigt wurde, wird heute mit der Maschine gemacht. Für die Welt, in der wir heute leben, ist das auch normal. Aber auf der anderen Seite verlieren wir damit ein gutes Stück Identität. Alles ist schnelllebig und man besitzt eigentlich keine Fertigkeiten mehr. Diese sind aber sehr wichtig für die eigene Identität.“
Bereits seit 15 Jahren kreiert sie Mode, ist viel herumgekommen – unter anderem in Belgien und Italien. Aber der Anfang ihres Weges gestaltet sich steinig. Sie spricht geduldig, mit Bedacht, und wirkt dabei gleichzeitig wie jemand, der gelernt hat, für den Moment im Hier und Jetzt dankbar zu sein: „Mit Mitte 20 war ich sehr lebhaft und hatte den Mut zu allem“, sagt sie verschmitzt. Deshalb arbeitete sie nach ihrer Ankunft schon bald an verschiedenen Projekten für unterschiedliche Auftraggeber, darunter das Hermannstädter Theater und das Ballett – und begann dabei als junger Mensch, erstmals über sich selbst hinauszuwachsen.
Über eine Reise in die Kindheit als Inspiration…
„Hier findet die Magie statt“, sagt sie schließlich beim Betreten ihres Ateliers. Geschäftig bewegt sie sich durch die Räume, holt mehrere Kataloge hervor: Die Recherchen und Skizzen der letzten Jahre. Zwischendrin zeigt sie Fotos auf dem Handy, ergänzt damit die Unterhaltung, begeistert sich, fast wirkt es, als finde sie beim Erzählen immer aufs Neue Inspiration.
Aufgewachsen ist sie bei ihren Großeltern, zunächst in der Stadt. Dann, mit elf Jahren, zieht sie mit ihnen aufs Land, in ein Dorf nahe Bistritz/Bistrița. Vom Häuserblock in der Stadt in ein kobaltblaues Lehmhaus auf dem Land, ohne fließend Wasser. Ihr Schulweg ist von nun an 14 Kilometer lang. Eine harte Umstellung. Aber: Dafür sei sie plötzlich frei gewesen. Alles war neu, faszinierend. In dem Dorf bekommt sie dann zum ersten Mal eine Nähmaschine zu Gesicht und weiß: Das ist es! Das will ich machen.
Die Dorfgemeinschaft, besonders die Dorffrauen und ihre Fertigkeiten haben es ihr angetan. Sie erzählt von der Farbenpracht, besonders an Ostern: „Ich verstand nicht, dass diese kunstvoll gefärbten Eier in den riesigen Bottichen zum Verzehr gedacht waren, für mich waren das alles einfach Farben!“, erzählt sie. Das Osterfest war zugleich der Anlass, zu dem die Großmutter sie in die prachtvolle Dorftracht einkleidete. Eine Erinnerung, die sie bis heute als einschneidende Erfahrung und als Kraft für ihre eigene Kreativität sieht.
…und auf den Spuren von Tradition und Vergangenheit
Denn zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn in Hermannstadt wurde sie erneut in Tracht gekleidet. Diesmal von einer Siebenbürger Sächsin. Sie zeigte ihr die verschiedenen Trachtenarten und ihre Eigenheiten. Wie kleideten sich die unverheirateten Mädchen, wie die Ehefrauen? In einem Projekt, das Anamaria Șut in Kooperation mit dem Demokratischen Forum der Deutschen in Hermannstadt durchführte, recherchierte sie zu siebenbürgisch-sächsischen Trachten und entwarf für eine Ausstellung verschiedene Trachtenteile. Dieser Vorgang des Ankleidens sei ein sehr menschlicher, so Anamaria Șut. Das habe sie in ihrer Kindheit schon so empfunden. Dass einem jemand das Trachtenhemd anziehe, die dazugehörige Brosche anstecke: „Heute haben wir nicht mehr die Zeit dazu, dass uns jemand zeigt, wie man sich richtig ankleidet.“
Später konnte sie auf diesem Wissen aufbauen: Denn sie erhielt Spezialaufträge, um alte Pfarrgewänder teilweise wieder herzurichten und aus Versatzstücken neu zu designen. Dabei färbte sie Stoff ein, erneuerte altes Material. Von den Auftraggebern hatte sie die Freiheit, altehrwürdige Traditionskleidung abzuwandeln und „ins Heute“ zu holen.
Auch für die Inszenierung des Projekts der Deutschen Abteilung des Radu-Stanca-Theaters, „Das Herz eines Schreiners“/„Inimă de Tâmplar“ von Sarah Brown, das anlässlich des Internationalen Theaterfestivals in Hermannstadt Premiere feierte, profitierte sie von dem Wissen, das sie sich über Trachten verschiedener Ethnien in Siebenbürgen angeeignet hatte. Sie entwarf die Kostüme der Schauspielerinnen und Schauspieler und war dabei inspiriert von verschiedenen Mustern und Formen der Trachten.
In einem Projekt mit dem Deutschen Kulturzentrum und dem ASTRA-Museum ging sie schließlich den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen rumänischer und siebenbürgisch-sächsischer Tracht auf den Grund. Dafür durchforstete sie das Museumsarchiv und wählte 50 Exponate aus, anhand derer sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeitete. Mit Schülerinnen und Schülern des Hermannstädter Kunstgymnasiums hielt sie Workshops zum Thema ab und führte sie dabei auch in alte Techniken wie das Färben von Stoffen und Garn ein.
Aus allen Projekten habe sie viel gelernt und sei dankbar für diese Erfahrungen: „Alle meine Projekte haben eine Bedeutung. Ich mache sie nicht einfach so. Sie müssen schon ein Gefühl der Freude mit sich bringen, eine Anziehung für mich haben. Das gibt mir Kraft.“
Rot, unabhängig, selbstbestimmt – „Les lèvres rouges“
Ein solches Kraft-Projekt ist auch das mit den roten Lippen. Besser: Den Samtlippen. Besonders beliebt sind sie als Anstecker, die in vielen Handmade-Läden in Hermannstadt zu erwerben sind. Überall im Atelier kann man sie entdecken. Als kleine samtene Broschen an den Wänden, als Muster eingearbeitet in verschiedene Kleidungsstücke wie Rock und Bluse, in Bleistiftskizzen an einer Skizzenwand. Die Idee zum Projekt hatte sie bereits 2015: Ihr Anliegen war es, damit Weiblichkeit, Individualität und die eigene Entwicklung hervorzuheben, sie zu leben und sichtbar werden zu lassen. Ins Gespräch zu kommen über Emotionen, Authentizität und Freundschaft und sich dabei selbst zu entdecken. Diese Kollektion wächst wie jedes Individuum, könnte man sagen, denn die Designerin fügt bis heute immer wieder ein neues Kleidungsstück hinzu. Die Farbe Rot ist ein wenig das, was sich bei ihr durchzieht: „Das Rot ist schön, aber es stört auch manchmal, weil es aussagt ,Ich bin präsent und ich werde es auf meine Weise machen.?“ Wenn man Anamaria Șut an diesem Vormittag zuhört, merkt man, dass sie sich selbst treu geblieben ist.
Mehr über die Künstlerin und ihr Schaffen unter: anamariasut.com