Ein „Spitzenkandidat“ ist nicht zwangsläufig auch ein demokratisch Erwählter. Dass die Regierungs- und Staatschefs der EU zu dieser Formel zurückgekehrt sind, beweist keineswegs ihr Demokratieverständnis – auch wenn solche Vorgehensweisen mit Vergleichbarem auf nationaler Ebene unvereinbar sind.
Sicher ist, dass die Bestimmung von Ursula von der Leyen als Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker und das Nachrücken der vor nicht einmal einem Jahr zur CDU-Vorsitzenden gewählten Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) zur bundesdeutschen Verteidigungsministerin für Kanzlerin Angela Merkel die glücklichste Lösung ihrer Nachfolgerfrage darstellt: die Sicherung der Kanzlerschaft bis 2021, die Chance für ihre unterschiedlich sympathisierten Protegés, sich vor der Öffentlichkeit zu beweisen, und für die Kanzlerin selber die Garantie einer ziemlich idyllischen Pensionszeit. Nicht zuletzt war es der Nachweis ihres Machtgeschicks und das Mundtot-Machen all jener, die ihr seit einem Jahr Lust und Laune zum Herrschen absprachen. Anders gesagt: Es war eine schallende Ohrfeige für die Medien und Kommentatoren, die ihr Schwäche(n) vorwarfen.
Im Zentrum der Dispute rund um die Ernennung der Juncker-Nachfolgerin stand jedoch der Rechtsstaat. Er war Gegenstand von Kontroversen und Streit zwischen Ost und West (die Haltung von Präsident Klaus Johannis in dieser Auseinandersetzung um den Rechtsstaat wurde den Bürgern dieses Landes nicht gänzlich nachvollziehbar erklärt...).
Klar hingegen war die Haltung und die Front der Illiberalen Mitteleuropas. Wer die Bewerbungsrede Ursula von der Leyens aufmerksam verfolgt hat, wird bemerkt haben, dass erstmals der Rechtsstaat (einzigartig in der Geschichte der EU!) die Ernennung derjenigen bestimmt hat, die in den kommenden fünf Jahren das Schicksal EU-Europas lenken werden. Bleibt zu hoffen, dass die neue Chefin der Europäischen Kommission auch wirklich ernst macht mit der Überprüfung der rechtsstaatlichen Verhältnisse in den Mitgliedsländern und nicht bloß mit lauten Ansagen zu punkten hofft und einem Viktor Orbán die Wangen tätschelt, wie es ihr Vorgänger getan hat. Denn die illiberalen Angriffe auf den Rechtsstaat werden nicht mittels Sympathie heischender Erklärungen aus Brüssel oder Straßburg gestoppt.
Irritierend beim ganzen Gezerre um den Rechtsstaat: Während in Rumänien ein paar notorische Maul-Aufreißer die Wahl von der Leyens zur „Niederlage Mitteleuropas“ erklärten, bejubelten die vier Visegrád-Staaten die Ernennung. Für sie war die Wahl der Deutschen ein „Sieg“ (leider wohl nur, weil dadurch der kaum überzeugende Manfred Weber und der polternde Frans Timmermans – vor allem letzterer – verhindert wurden...). Laut der „Theorie der rationalen Wahl“ dürften Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen in eine Falle getappt sein, auch wenn sie im eigenen Land behaupteten, mit der Bestimmung Ursula von der Leyens ihre Macht bewiesen zu haben...
Rumänische Kommentatoren fragen sich, ob die lauten Kritiken am Brüsseler Von-der-Leyen-Kompromiss anzeigen, dass Illiberalität auch hierzulande auf dem Vormarsch ist und rumänienweit einen Wortführer sucht. Ausschließen kann niemand, dass die liberale Osteuropainsel Rumänien (siehe Ergebnisse der Volksbefragungen zur „traditionellen Ehe“ 2018 und „Rechtsstaatlichkeit“ 2019) untergehen könnte. Keiner kann leugnen, dass Illiberalität (unterschiedlich benannt) hierzulande seit dem Wendejahr 1989 und während der endlosen Transition ununterbrochen existiert hat. Iliescu und Băsescu waren Illiberale.
Wir Europäer fahren ab Spätherbst 2019 mit dem Tandem von der Leyen / Michel, dem „innovatives, reformatorisches Potenzial“ bescheinigt wird. Für Erhalt und Festigung des Rechtsstaats haben sich die Deutsche und der Belgier ausgesprochen. Nehmen sie auch Timmermans mit ins Boot? Beginnt 2020 der Krieg gegen die Illiberalität in der EU?