Ingrid Melzer, 55, wanderte aus Arbegen/Agârbiciu nach Deutschland aus. In Drabenderhöhe ließ sie sich nieder, heiratete, bekam zwei Töchter, arbeitete als Grundschullehrerin, ließ sich scheiden. Eine berufliche Auszeit soll ihr helfen sich neu auszurichten. Diese verbringt sie überwiegend in Siebenbürgen, insbesondere in Hermannstadt/Sibiu. Elfriede Dörr fragte Ingrid Melzer, was sie bei ihrer Auswanderung mitgenommen hat – und was sie heute im Gepäck trägt, wenn sie nach Siebenbürgen reist.
Das war am 17. Januar 1990 als ich das Land verließ. Mit Besucherpass bin ich ausgewandert. Ich habe mich beeilt, ich hatte Sorge, dass die Grenzen wieder zugemacht werden. Ich war 20, hatte keine eigene Familie, kein gar nichts.
Ich war in meinem Leben vorher noch nie über eine Grenze gekommen. Ich kannte nur das Schwarze Meer, den Arges und Bukarest. Ich las Romane und lebte in der anderen Welt. Und dachte immer, ich will nur einmal über die Grenze hinaussehen. Wir lebten in Arbegen so eingeschränkt, behütet auch, unwissend, frei.
Ich erinnere mich an die Sommerabende als ich 18, 19 Jahre alt war, ich saß auf der Bank gegenüber von unserem Haus, also auf „der Goss“, und sah den Sternenhimmel, und dachte: Das, was ich jetzt sehe, das sehen viele Menschen auf der Welt auch. Das verbindet uns. Das macht mich ein bisschen frei. Auch wenn ich nicht raus kann.
Aber mein Geist ging weiter, weißt du? Und ich habe mich weggeträumt und weggewünscht, Erfahrungen zu machen. Etwas Neues zu sehen, etwas Neues zu erleben, meinen Horizont zu erweitern. So eine Neugier, so einen Hunger auf Leben, auf Neues, auf Gutes hat mich hinausgetrieben. Und Vertrauen habe ich mitgenommen. Vertrauen in alles, was kommt. Mir erschloss sich ja in Deutschland eine neue, unbekannte Welt, die nicht so einfach war im Nachhinein.
Was habe ich mitgenommen? Ich kann dir sagen, ich habe 100 Mark gehabt. Wir hatten zu Hause etwas Mark versteckt gehabt. Das haben mir meine Eltern mitgegeben. Nimm Kind, dass du dir, sobald du in Deutschland ankommst, was zu essen kaufen kannst.
Es gab damals diese kleinen Vokabelhefte in Gelb. Kannst du dich erinnern? Das waren meine Tagebücher. Es waren drei Vokabelhefte, die habe ich mitgenommen. Sie waren vollgeschrieben. Ich habe sie immer noch. Ein paar Fotos und diese Vokabelhefte. Das war es, was ich aufgeschrieben habe und ein paar Fotos aus meiner Kindheit, Urlaubsfotos mit meinen Eltern, die fröhlich waren.
Dann war da noch mein Portemonnaie, mein Pass war drin, die Mark, Lei hatte ich auch mit, mein Buletin, was man so braucht. Ich glaube auch meinen Geburtsschein habe ich mitgenommen. Ich hatte in meinem Portemonnaie alle wichtigen Dokumente und das Geld.
Ich bin mit einem Koffer ausgewandert. Meine beste Kleidung habe ich eingepackt, sodass das Nötigste da war, an Wäsche, an Anziehsachen. Es waren auf jeden Fall rote Shorts, diese Boxershorts aus Ballonseide, die gab es damals, verstehst du, so wie Modern Talking damals. Und weiße Tennissocken. Und weiße T-Shirts. Sowas. Ja, ja, es waren auch Sommerkleider, bunte, schöne. Es war zwar im Januar, aber ich habe Sommersachen mitgenommen. Meine schönsten, allerschönsten Sachen. Auch schon damals waren die ein bisschen bunt. Das sagt aber nichts aus, dass ich oberflächlich oder leichtfertig wäre, oder, wie soll ich sagen, nicht ernst genommen werden muss. Das bin einfach ich, und ich bin tiefer und mehr als das.
Und ich war ohne Angst. Ich weiß noch, ich war zwanzig und dachte: irgendwie schaffen wir das, wir kommen irgendwo an und wir können irgendwo bleiben, irgendwo gibt es ein Telefon und dann rufen wir die Heidi, meine Schwester, an und meinen Schwager, die wissen, dass wir uns auf den Weg machen würden, von ihr hatten wir diese Einladung zu ihrer Hochzeit, man konnte ja nur mit einer Einladung so schnell einen Reisepass bekommen. War alles gelogen, aber dann kam der Pass.
Wir sind in Kleinkopisch/Cop{a Mic² in den Zug gestiegen. Meine Mutter ist gar nicht mitgekommen. Das war aber auch nicht dramatisch. Die habe ich nicht vermisst. Mein Vater hat mich mit dem Auto und mit dem Kurt Sitterli zum Bahnhof gebracht. Die Schwester von Kurt war da, mein Vater war da und ein paar Freunde aus der Clique. Dieser Abschied war mit keiner Träne verbunden, mit keinem Abschiedsschmerz. Es war nur Leichtigkeit, Hoffnung, Fröhlichkeit, Aufbruch in ein neues Abenteuer. Und vor allem hatten wir keine Angst.
Um Mitternacht ging der Zug. Es war dunkel, ab und zu eine Laterne, Nebel, wir auf dem Bahnhof. Wie in einem Film, der Zug kam, wir stiegen ein, wie bei Marlene Dietrich, schwarz-weiß, wir stiegen ein, und tschüss, weg waren wir. Wir wussten, die anderen wollten ja in den nächsten Wochen auch weg, in die Freiheit.
Freiheit, das ist das, was mich so trägt. Und jetzt komme ich hierher zurück, wegen der Freiheit. Ja, wegen der Freiheit.
Was mache ich hier in Hermannstadt, fragst du.
Ich möchte mich verschenken. Ich bin hier, in Hermannstadt, weil ich den Eindruck habe, die Welt kommt hier zusammen. Verstehst du, was ich meine? Ich brauche gar keinen anderen Kontinent oder eine andere Stadt, um mich zu verschenken.
Wir sind es gewohnt, Materielles zu schenken – etwas Sichtbares, Greifbares, Bewertbares. Schon mein ganzes Leben war geprägt von diesem Denken: Du musst etwas leisten, einen Zweck erfüllen, arbeiten, produzieren – und dann kannst du etwas vorweisen. Ein fertiges Produkt, eine Note, ein Zeugnis, eine Anerkennung. Etwas Bleibendes, das zeigt: Hier ist meine Leistung. Lobt mich, bezahlt mich dafür.
Doch in den letzten Monaten habe ich nichts produziert. Ich war in Hermannstadt – einfach nur da. Keine Fabrik, keine Schulbank, kein Endprodukt. Ich verschenke mich selbst.
Ich bin da und die Menschen kommen zu mir. Ich höre zu. Manchmal gebe ich meinen Senf dazu, immer lasse ich die Menschen einfach sein. So verschenke ich mich. Ich höre zu. Und dann trennen wir uns wieder.
Ich stand oben auf dem Kirchturm, als sich ein älterer Herr zu mir gesellte. Zwanzig Minuten lang standen wir nebeneinander. Er erzählte. Ich hörte zu. Mein Englisch ist nicht das Beste, doch seine Geschichte konnte ich gut verstehen.
Er sprach von seiner Frau – seiner verstorbenen Frau. Gemeinsam hatten sie eine große Reise durch Europa geplant. Sie lebten in New York, er war selbstständig, erfolgreich, wohlhabend. Das Geld war nie ein Problem – alles war vorbereitet, alles gut. Sie hatte jede Station dieser Reise bis ins Detail geplant.
Und nun stand er hier – allein.
Er hatte die Urne mit der Asche seiner Frau dabei. An jedem Ort, den sie gemeinsam hätten sehen wollen, verstreute er etwas von ihrer Asche.
Nach Hermannstadt komme ich mit leichtem Gepäck. Ich brauche ganz wenig. Wichtig sind diese kleinen Sachen, die zu mir gehören. Das sind die Räucherstäbchen, das ist mein Engel aus Filz. Und meine Klangschale und mein Schmuck und meine Vögel. Das packe ich dann aus, ein kleines Päckchen, dann bin ich angekommen.
Warum Vögel? Vögel sind für mich ein Symbol der Freiheit, der Leichtigkeit, der Unbeschwertheit. Und Vögel müssen nichts leisten. Wir sind so anders geprägt, so auf Leistung gesteuert. Leiste erst, dann darfst du leben. Es ist immer ein Geschäft. Das tut nicht gut.
Aber was sagt die Bibel über die Vögel? Schaut sie euch an, sie arbeiten nicht, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie dürfen einfach sein. Das wünsche ich mir auch.