„Überall bin ich die Älteste“

Turnen, Gehen, Sudoku, Stricken, Tanzen – das Geheimnis des Fit-Seins im hohen Alter

Herta Chisăliță, 98 Jahre jung

In der Hollywoodschaukel hält sie oftmals am Nachmittag ein Nickerchen. Fotos: die Verfasserin

„Kommen Sie morgen um 11.“ Mit fester Stimme erhalte ich über den Besuchstermin und die Adresse Bescheid. Das Tor sperrt eine adrett gekleidete Dame auf und bittet mich zu Kaffee sowie selbstgebackenen Honigpusserln und Brezelchen ins Wohnzimmer. Ihr Gesicht ist mir von Weihnachts- und Osterbasaren sowie Veranstaltungen im Forumshaus bekannt. Sie ist allein zuhause, die Familie, die am gleichen Hof mit wunderschönem Garten wohnt und für sie sorgt, macht Urlaub. Was an all dem verwunderlich ist? Meine Gastgeberin ist 98 Jahre alt. Jung, ist man bei ihrer Erscheinung und ihrem Auftreten geneigt zu sagen. 

Im Handarbeitskreis gebe es eine noch ältere Dame als sie es ist, hatte mir die 90-jährige Helga Pitters erzählt. Von Hildrun Schneider, der Referentin für den Kontakt zu den Forums-Mitgliedern im Raum Hermannstadt/Sibiu, erhielt ich die Telefonnummer und den Hinweis, Frau Herta Chis˛li]˛ sei fit. Sooo fit hatte ich die 98-Jährige eigentlich nicht erwartet – und fragte natürlich gleich nach dem Geheimnis der guten körperlichen und geistigen Verfassung. „Turnen, man muss turnen“, lautete die überzeugte Antwort. Und Herta Chisăliță zeigte mir, wo sie am Morgen eine Decke auf den Boden zum Turnen auslegt. Ihre etwa zehn Minuten Übungen schließt sie – stehend – mit Bewegungen der Augen. 

Täglich Turnen und Gehen

Das Turnen jeden Morgen erfolgt nach dem Schlucken der Blutdrucksenkungspillen. Nach dem Turnen geht sie ins Bad, danach macht sie ihr Frühstück: einen Milchkaffee mit zwei Scheiben Striezel, lacht sie. Das Mittagessen bekommt sie von der Familie, die für sie sorgt, es sind Anverwandte ihres verstorbenen Ehemannes. Mittags esse sie für gewöhnlich nur die Suppe, den zweiten Gang dann später, der sei dann oftmals auch das Abendessen. Mehr benötigt sie nicht, höchstens noch eine Tasse Milch und Obst. „Obst habe ich immer im Haus,“ sagt sie. Aha: Wenig und gesund essen gehört zum Fitbleiben dazu. Ein Nickerchen am Nachmittag hält sie, sooft das Wetter es erlaubt, im Freien, im Garten, zum Beispiel auf der Hollywoodschaukel. 

Nach dem weiteren Tagesablauf gefragt, erfahre ich, dass sie wochentags täglich irgendwohin geht: Mal holt sie Milch vom Markt, am anderen Tag Obst und am nächsten Brot. Milch und Brot könnte sie auch am gleichen Tag bringen, tut sie aber nicht, um anderntags auch einen Grund zum Weggehen zu haben. „Man muss gehen“, erklärt sie. Am Sonntagvormittag geht Herta Chis˛li]˛ in die Kirche und jeden Sonntagnachmittag wird Remy mit drei weiteren Damen gespielt. Sie treffen sich reihum bei jeweils einer von ihnen und trinken beim Spielen einen Kaffee. „Und Kuchen?“ frage ich. „Das Backen haben wir abgeschafft, aber es erscheint dann doch jedes Mal etwas neben dem Kaffee,“ antwortet sie. Da die Remy-Freundinnen etwas weit wohnen, fährt sie per Taxi hin. „Ich bin die Älteste, überall bin ich die Älteste“, lacht sie.     

Schon hunderte Paare Socken gestrickt

An Hausarbeit hat sie nur das Geschirr Abwaschen und ab und zu den Staub von den Möbeln Wischen zu erledigen, sauber macht die Betreuerin. Womit sie die restlichen Stunden des Tages verbringt? „Mit Sudoku und Stricken,“ erfahre ich. Nach dem Handarbeitskreis gefragt, meinte Frau Chisăliță „schwache Sache“. Letztes Mal seien sie nur zu zweit gewesen. Man werde sehen, wie es nach den Ferien weitergeht. Wann die Ferien aufhören? „Wenn die Schule beginnt, fangen auch wir wieder an“, lautete die Antwort. Im Handarbeitskreis sei sie „seit einer Ewigkeit“ und ebenso lang strickt sie Socken. Hunderte Paare habe sie bereits gestrickt. Dafür bekommt sie neuerdings Sockenwolle – d.h. dünnen Wollfaden – von der Nichte aus Deutschland. Und ich stelle fest, von ihr am Basar dergleichen dünne, aber warme Wollsocken gekauft zu haben! Die besten Wollsocken, die es gibt, denn sie passen auch in Schuhe. Nach der Wende hatte es in Hermannstadt drei Handarbeitskreise gegeben, nun besteht nur noch einer, bei der Stadtpfarrkirche, aber auch dahin kommen immer weniger Frauen. Einige schaffen es ohne Begleitung nicht mehr, andere sind krank, viele leider verstorben. 

Und wer ist Herta Chisăliță? 

Geboren wurde sie am 11. August 1927 in Katzendorf/Ca]a. 1938 kam sie ins Gymnasium nach Hermannstadt und lebt seither dort. Nach dem Besuch der Handelsschule hat sie 40 Jahre lang in der (1873 als Gerberei Samuel Zacharias & Söhne gegründeten späteren) Lederfabrik und Taschnerei „13. Decembrie“ gearbeitet. Zunächst war sie Buchhalterin, danach Telex-Korrespondentin. „Hinter Eisengitter, denn dort durfte nur eine Vertrauensperson drin sein und die war ich“, erklärte sie. Eilige Korrespondenz wurde vor dem Erfinden des Fax und E-Mails per Telex erledigt, es waren eine Art große Schreibmaschinen, dergleichen Geräte stehen heute bestenfalls in Museen. 1982 trat sie in Rente. Der Russlanddeportation entging sie. „Ich hatte Glück, ich war ein halbes Jahr zu jung.“ Ihr Ehemann verstarb 1996, seit bald 30 Jahren ist sie Witwe. Kinder habe sie leider keine, fügte aber das rumänische Sprichwort hinzu: „Cine are să-i trăiască, cine n-are, să nu-și dorească“. Wer Kinder hat, der soll sie gesund heranwachsen sehen, wer keine hat, braucht auch die damit verbundenen Schwierigkeiten nicht in Kauf zu nehmen. 

Kleider weg, Schuhe weg, doch sie nimmt alles leicht

An Sport hat sie „nur“ Schwimmen betrieben und auch bei einem Wettbewerb im 100 Meter Brustschwimmen teilgenommen. Mit dem Schwimmen verbindet sie weniger angenehme Erinnerungen, über die sie heute lacht: Im Strandbad hatte sie den Nummernschlüssel der Kabine in der Tür vergessen, so dass die Kleider und ein schöner Ring ausgeräumt worden sind. Ob sie im Badeanzug heimgegangen sei? „Nein, ich hatte jemanden um andere Kleider geschickt,“ erfahre ich. Doch sei sie aus dem Bad bei der Schreyer-Mühle mal barfuß nach Hause gegangen: Sie hatte die Schuhe offensichtlich zu nahe am Kabinenrand innen stehen lassen, so dass sie unter der Türe herausgezogen worden sind. Sehr gerne ist sie ins nahe Salzburg/Ocna Sibiului baden gefahren – und hat gar einen Kopfsprung in den Salzsee gewagt. Das sei doch verboten und schwierig, weil man in dem Salzwasser schwer untertaucht, stelle ich fest „Freilich, aber ich hab es doch gemacht“, lacht sie verschmitzt. Sie habe alles leichtgenommen, denn sie war Gott sei dank ein gesunder Mensch. Einen „Defekt“ erwähnt sie dann doch: Sie hört schlecht und hat ein Hörgerät. Tja, perfekt ist halt niemand.  

Immer viel getanzt

Irgendwann kommen wir im Gespräch auf die Feste im Forumshaus zurück und sie fragt mich, ob ich Eva Sonn (verheiratete Ungar) gekannt habe. Natürlich. „Mit ihr habe ich viel getanzt, auf den Kathreinen- und Marienbällen, am Fasching. Walzer, Polka, Englisch Walzer, Tango.“ Und sie bedauert, niemanden mehr zu haben, um zu Tanzveranstaltungen zu gehen, denn ihre Remy-Damen wollen nicht mit. 

Herta Chis˛li]˛ ist ein froher, rundum zufriedener Mensch. Mit der sie betreuenden Familie, die mit ihr wenig Kopfzerbrechen hat, gehe es sehr gut. Warum denn nicht, will ich wissen. „Die alten Leute sind meistens sekant“, sagt sie lachend. Bei ihr ist das der Fall nicht, sie sei ein Geduldsmensch, ergänzt sie. Wo sie die Geduld gelernt habe? „Das kommt von selbst. Das hat man oder hat man nicht.“ Wie sie zu altern ist einfach schön.