Wütend statt traurig

„Rotkäppchen muss weinen“, Beate Teresa Hanika, Fischer Taschenbuch Verlag ISBN 9783596808588 Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Das vorliegende Buch ist in Rumänien erhältlich in der Erasmus Buchhandlung in Hermannstadt, www.buechercafe.ro

Im vorgestellten Buch werden Trauma und sexualisierte Gewalt thematisiert. Beate Teresa Hanikas Debütroman „Rotkäppchen muss weinen“ ist ganz schön erdrückend und anders für einen traurigen Oktober. Man mag eher aus dem Fenster gucken, Regentropfen prasseln leise gegen die Scheibe, und sich an eine Tasse Tee klammern, wenn man Malvina folgt, wie sie auf wackligen Beinen jeden Tag durch den tiefsten Wald zu ihrem Opa zurückkehrt, wo die Menschen verwahrloster sind als die triste Landschaft.Die dreizehnjährige Malvina ist eine starke Protagonistin und vor allem füllt sie mit ihren Gedanken die Stille des Buches auf. Es passiert nicht viel, aber unter der Gleichförmigkeit des Alltags setzt sich der Roman konsequent und in sprachlichem Minimalismus mit Missbrauch, Schmerz und einem Maß an Gewalt auseinander, das nur schwer zu ertragen ist. Schnörkellos, selbstbewusst und direkt setzen sich die Worte von Hanika beim Lesenden fest. Darin liegt auch die Stärke der Autorin: In dem Talent, emotionales Leid nicht auszuschlachten oder durch unpassende Dramatik fassbarer oder leichter verdaulich zu machen. „Rotkäppchen weint“ trifft den richtigen Ton, beschreibt intim, unmittelbar und laut Kindheit, Freundschaft und richtet eine Anklage an die Naivität und das Wegsehen der Eltern. 
Malvina hat einen autoritären und herzlosen Vater, der sie nicht ernst nimmt, und eine überforderte Mutter, die sich migränekrank im Hinterzimmer versteckt. Ihre Geschwister sind älter und in ihrer eigenen Seifenblase gefangen und so kommt es, dass die verantwortlichen Bezugspersonen der heranwachsenden Protagonistin keine Aufmerksamkeit schenken. Oma ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben, Opa die Treppe runtergestürzt und allein zu Hause. Aber das ist nur ein Vorwand, damit Malvina jeden Tag zu ihm geht und ihm Essen bringt, auch wenn sie von Anfang an ein mulmiges Gefühl in der Magengrube hat. Stück für Stück erinnert sie sich an ein Früher, doch auf ihre Initiative reagiert die Familie nur mit einem „Der Opa küsst dich, weil er dich nun mal lieb hat.“ Malvina presst die Lippen aufeinander, sitzt am Esstisch und ihre lautlosen Tränen tropfen in die dampfende Gemüsesuppe. Nur bei der Nachbarin ihres Opas und ihrer besten Freundin Lizzy findet Malvina emotionalen Halt. Auch ihr Freund Klatsche ist immer da. Wenn sie wütend, traurig oder schweigend mit dem Fahrrad den Wald durchquert, begleitet sie die Silhouette des unscheinbaren Jungen. 

Die kindliche Sprache, das Präsens als Erzählform und das Ineinanderfließen von erlebter und wörtlicher Rede gestalten eine Langsam- und Alltäglichkeit, welche auch die Glaubwürdigkeit der Kinderstimme als erzählende Instanz unterstreicht. Die Autorin bleibt im Moment, greifbar und simpel, aber dennoch an den richtigen Stellen zart-poetisch. „Rotkäppchen muss weinen“ ist eine rein fiktive Geschichte und kein pädagogisches Buch, keine Betroffenenerfahrung und sollte dennoch beachtet werden, weil es gesellschaftliche familiäre Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse anschaulich beschreibt. Durch die Corona-Pandemie hat sich 2020 laut offiziellen Zahlen der deutschen Jugendämter die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche um neun Prozent auf fast 60.600 Betroffene erhöht. In dem Sinne ist Malvinas Erzählung ein Beitrag zu einer bislang nur zaghaft geführten Debatte, obgleich Kinder in den letzten Monaten ihrem familiären Umfeld wie noch nie ausgeliefert waren. 

Für ihren feinfühligen Ton wurde die Autorin 2007 für den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet und für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2010 nominiert. Neben dem beklemmenden Schweigen und den Auslassungen, den leeren Flecken im Puzzle von Malvinas Erinnerung, ist „Rotkäppchen muss weinen“ aber vor allem ein Buch über die Schönheit und Zerbrechlichkeit der Kindheit, die wir als Erwachsene unbedingt schützen müssen.

 

Wenn Sie davon betroffen sind oder Menschen in Ihrem Umfeld, holen Sie sich bitte Unterstützung:
Deutschland: 
    • Hilfetelefon „Sexueller Missbrauch” (kostenfrei + anonym): 00490800 22 55 530. 
    • Weisser Ring (Opfer-Telefon): 0049116006
    • Rat gibt es auch auf www.wildwasser.de

Rumänien:
    • Telefon de urgență protecție socială: 0440728729797