Meine erste Amerikareise liegt nun gut zwei Wochen zurück und mir wird erst jetzt richtig bewusst, dass es eine solche gegeben hat. Wie meistens im Leben, vermag man das Außergewöhnliche nur im Nachhinein als solches zu erkennen und zu würdigen.
Alles begann im Sommer dieses Jahres, als eine meiner ehemaligen Schülerinnen, Raluca C., die nun bald zwanzig Jahre auf dem nordamerikanischen Kontinent lebt, mich zu einem Poesiefestival („Translations. Cross-Cultural Exchange through Poetry”, 25-29. Oktober, 2011) nach Lewiston im Staate Maine ans Bates College einlud. Für mich kam diese Einladung völlig überraschend und im Grunde ebenso unverhofft wie unerwünscht.
Der Gedanke, den Atlantik zu überfliegen, Tausende Meilen weit weg von meinem Heimatort zu verweilen, um einen Leseabend in einem College in New England zu gestalten, wollte mir zunächst vollkommen abwegig erscheinen. Dazu die Strapazen der Visumsbeschaffung, die enorme Fliegerei, das Risiko eines Wettereinbruchs Ende Oktober, die Sorge um meinen Hund, das alles trug nicht dazu bei, meine Reiselust anzuspornen.
Andererseits wurde mir von allen Seiten gut zugeredet, wann würde ich eine derartige Gelegenheit ein zweites Mal bekommen und wie gut würde sich die Angabe in meinem Lebenslauf machen als deutschsprachige Autorin aus Rumänien an einem amerikanischen Poesiefestival teilgenommen zu haben. Kurzum, man fuhr alle erdenklichen Argumente auf, so dass ich mich letztendlich zu allem überreden ließ und mich am 24. Oktober, trotz einer akuten Nasen-Rachenerkrankung, planmäßig auf den Weg nach Übersee machte.
Ich musste dreimal umsteigen, drei unterschiedliche Maschinen „boarden“, um in der Zeit regelrecht zurückzufliegen, denn während mein Hundesitter und mein Hund längst schon tief und fest zu Hause schliefen, hielt der 24. Oktober für mich immer noch an.
Die Stunden häuften sich mir zu einer immerwährenden Gegenwart, in der ich wie in einem Netz zu hängen schien und die ich als sonnenhellen Himmel durch die Luke des Flugzeuges wahrnehmen konnte. Spannend wurde es dann gegen Abend, als meine Maschine auf New Yorks kleinstem Flughafen (Newark Liberty) landete und ich mich der rigorosen Kontrolle der amerikanischen Einwanderungsbehörde unterziehen musste.
Man war mir und meinem Reiseanliegen allerdings gut gesinnt, sodass ich ziemlich schnell weiter und zu meinem Gepäck konnte, das ich nun ein zweites Mal zum Verstauen und Weiterflug abgeben durfte. Ich hatte nur noch knapp anderthalb Stunden bis Portland zu fliegen, wo Raluca C. auf mich warten und mich ins nahe gelegene Campus des Bates College fahren würde. Obwohl es immer noch der gleiche Tag war, an dem ich von zu Hause aufgebrochen war, oder gerade deswegen, fühlte ich mich völlig erschöpft und schlief sehr bald nach dem etwas verspäteten Start des kleinen Linienflugzeugs ein – es handelte sich um so etwas wie eine Pendlermaschine oder besser, um einen fliegenden Kleinbus, was mir etwas Angst machte.
Etwa auf halber Flugstrecke schreckte ich aus dem merkwürdigen Dämmerzustand auf, in den ich versunken war: Der Pilot sprach langsam und gelassen, indem er die Vokale einzeln zu zerkauen schien, um den Passagieren das Verdauen seiner Nachricht zu erleichtern. Er müsse seine Maschine nach Newark zurücksteuern, kaute er gemächlich in sein Mikrophon, denn die Luke zum Frachtraum sei nicht richtig verschlossen, er könne den Zielort so nicht erreichen. Gekaut, getan.
Die Maschine ruckte ein wenig und vollzog dann das Wendemanöver. Man konnte hören, wie das Handgepäck über den Köpfen der wenigen Passagiere hin- und herrutschte. Ich war fassungslos und wartete darauf, dass man allgemein aus der Haut fuhr. Nichts dergleichen geschah. Die amerikanischen Passagiere blieben ruhig, die meisten schliefen weiter. Ich ließ den Kopf gegen die Rückenlehne meines Sitzes knallen und stellte mir vor, was in Rumänien in einer solchen Situation passiert wäre.
Nachdem wir in Newark aufsetzten, informierte uns der Pilot, dass eine Bodencrew erwartet werde und sobald diese den Schaden manuell behoben haben wird, würden wir den Flug wieder aufnehmen. Er wiederkäute diese Mitteilung alle Viertelstunden und jedes Mal bedankte er sich für unsere Geduld, die ich in der Tat für bemerkenswert hielt. Mit einer beinahe zweistündigen Verspätung konnte die kleine Maschine den Flug wiederaufnehmen und das, was von meiner Wenigkeit und deren Contenance noch übriggeblieben war, landete wohlbehalten in Portland.
Die Freude darüber, dass ich eingetroffen war, war groß, Raluca C. umarmte mich, danach stellte sie mich ihrer Kollegin Claudia vor und wir eilten zur Gepäckaufnahme. Auf dem Fließband drehten sich drei, vier Gepäckstücke im Kreis. Keine Passagiere waren da, die die Gepäckstücke hätten an sich nehmen können, außer mir. Leider befand sich mein schwarzer Koffer nicht unter den vereinsamten Gepäckstücken auf dem Band.
Mir fehlte die Kraft mich darüber aufzuregen. Alles was ich denken und sagen konnte, war: Irgendwie habe ich es die ganze Zeit geahnt.
Plötzlich wurde mir klar, dass mein Selbstbewusstsein und mein Selbstwertgefühl in der fernsten Fremde ausgerechnet von einem banalen Gegenstand wie einem Koffer abhängig war! Die Tatsache, dass ich den ganzen nächsten Tag ohne mein Gepäck an diesem fremden Ort auskommen musste, setzte mir sehr zu, zumal ich genötigt war, wichtige Programmpunkte zu bestreiten, für die ich auf jeden Fall eine gute Figur machen musste – und dazu brauchte ich wenigstens meine eigene Zahnbürste, frische Unterwäsche und eine andere Bluse: als Erstes eine Fotosession (mit einem Gesicht, das am besten als „wandelnder Jet lag“ zu beschreiben war), ein erstes Zusammentreffen mit den Germanistikstudierenden, die meine Gedichte aus dem Deutschen ins Englische übersetzt hatten, gemeinsame Mahlzeiten mit den andern geladenen Dichterinnen und Dichtern und schließ-lich die Eröffnung des Festivals mit dem ersten Leseabend und dem Willkommensbüfett.
Ich befand mich zwar nicht in einer Großstadtmetropole wie New York, Boston oder Los Angeles, aber ich befand mich immerhin in den Vereinigten Staaten, in einem andern, einem ganz kleinen L. A., wie die Einwohner spaßiger Weise ihr Lewiston-Auburn abkürzen, also kann hier alles möglich sein: Am Abend des 25. Oktober wurden wir telefonisch verständigt, dass der vermisste Koffer gefunden und auf dem Weg ins Bates Campus sei.
Im Gegensatz zu mir, war mein Gepäck immerhin in Philadelphia gelandet. Die Wiedervereinigung mit ihm fand gegen 22 Uhr Ortszeit statt und somit war auch mein angeschlagenes Selbstwertgefühl komplett hergestellt. Ab jetzt werde ich die mitleidige Frage, ob mein „baggage“ angekommen sei, nicht mehr hören müssen, bzw. werde ich von allen mit der freudigen Feststellung begrüßt, how nice, dass das Gepäck nun da sei.
Ich wohne im Campus des Bates College in einer VIP Suite, die ich mit Miguel Angel Zapata, dem Dichter aus Peru, teile. Über uns in der ersten Etage des geräumigen Reihenhauses mit der weißen Holzverschalung – man kennt die Sorte aus den zahlreichen amerikanischen Serienfilmen, sodass man sich eines deja vu Effekts nicht erwehren kann - wohnt die russische Dichterin Polina Barskova zusammen mit der französisch-amerikanischen Dichterin Rhea Côté Robbins.
Die anderen vier geladenen Dichter sind Naomi Otsubo (Japan), Francisca López (Spanien), der französisch Kanadier Danny Plourde aus Quebec und der einheimische Robert Farnsworth. Einheimisch sind im Grunde alle außer mir. Denn bald stellt sich heraus, Miguel ist zwar in Lima geboren, lebt aber seit 17 Jahren in New Jersey, Polina, die ganze 20 Jahre jünger ist als ich und in St. Petersburg, oder besser Leningrad, ihre Kindheit verbracht hat, lebt seit den frühen 90ern in den USA, das gleiche trifft auf die andern zu. Sie alle schreiben allerdings ihre Gedichte in ihren jeweiligen Muttersprachen, d. h. Spanisch, Russisch, Japanisch oder Französisch und lassen sich ins Englische übersetzen und so veröffentlichen.
Man meint, ich würde ebenfalls in den Staaten leben. Wo das sei. Nirgends, ich... Da ich deutsch schreibe, müsse ich dann wohl in Germany leben. Natürlich, das wird es sein. Erneut muss ich verneinen. Spätestens am 28.Oktober, am Abend meiner Lesung, oder besser gesagt meiner reading performance, die damit beginnt, dass auf dem Cybererdball weit abgelegene Orte wie Kronstadt/Braşov, Bukarestund sogar Filipeşti de Târg, das Kaff, in dem ich meine Lehrerkarriere vor über 30 Jahren begonnen habe und an das mich dies nur wenig größere amerikanische Kaff erinnert, aufleuchten, wird den Anwesenden klar, dass ich sozusagen aus einer anderen Welt komme und möglicherweise etwas Besonderes sein könnte.
Die Lesungen beeindrucken mich, besonders jene von Polina, dem Russian girl, die blitzgescheit ist und ein wulstiges Englisch spricht, das sie mit Händen und Füßen und einer lebhaften Mimik begleitet, und von Miguel, dem Peruvian man, der manchmal in die abgehakte Redeweise der Südamerikaner verfällt und dazu den Rhythmus des Cajón klopft.
Sie machen beide eine gute Figur, ihre Texte entsprechen meiner eigenen Vorstellung von Lyrik und der Art, wie man Lyrik vorstellen könnte. Was mich betrifft, lege ich mich richtig ins Zeug, inszeniere mich und meine Texte auf eine Art, wie ich es bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit Gedichten getan habe. Und es kommt gut an, erstaunt das Publikum, das jeden der vier Abende sehr zahlreich und hoch motiviert im Chase Hall erscheint.
Das Interesse der amerikanischen Leser für Lyrik ist offensichtlich wesentlich größer als jenes der europäischen Leser. Poesie im Sinn von lyrischer Dichtung hat in Amerika einen ganz anderen Stellenwert, das Veröffentlichen eines Lyrikbandes stellt hier kein editorisches und finanzielles Risiko dar. Lehrende, Studierende, Übersetzer und Liebhaber von Gedichten kommen zu den Leseabenden, um lebende Dichter zu sehen und zu hören, selbst wenn sie deren Mutter- und Schreibsprache nur in der Vermittlung von Übersetzungen verstehen können.
Das Poesiefestival wird durch eine zweitägige Tagung zu Fragen der Übersetzung von Lyrik ergänzt. Ich nutze die Gelegenheit und beteilige mich auch daran mit einem Vortrag in englischer Sprache über das Schreiben am Schnittpunkt mehrerer Kulturen und Sprachen und versuche zu erläutern, dass das Schreiben von Gedichten an sich als ein besonderer Vorgang des Übersetzens zu verstehen sei und dass man Realität unter Umständen in unterschiedliche Sprachen zu verdichten vermag, ohne dabei von Texten zu sprechen, die aus einer Sprache in eine andere übersetzt wurden.
Ich illustriere das mit Beispielen aus meiner frühen Lyrik, die ich während der vier Filipeşter Jahre abwechselnd in englischer, deutscher und rumänischer Sprache verfasst hatte. Mir wird klar, dass es kein Zufall ist, dass ich ausgerechnet in der amerikanischen Kleinstadt Lewiston über meine Anfangsjahre in Filipe{ti referiere. Ein Grundmuster meines Lebens wiederholt sich auf bemerkenswerte Weise, woanders hätte mich mein erster Amerikaaufenthalt gar nicht führen können.
Was mich sonst noch beeindruckt hat? Die Ernsthaftigkeit mit der Lehrende und Studierende ihren jeweiligen Aufgaben am College nachkommen, die hervorragende Ausstattung der Lehrräume, der verschiedenen Halls, in denen gelehrt, gelernt, gelesen, musiziert, Theater gespielt und Sport getrieben wird. Die beneidenswerte Mensa, in der täglich zehn bis fünfzehn Gerichte zur Wahl stehen und wo man zusammen mit seiner Studentengruppe, der Klasse, wie man hier sagt, gemeinsam frühstücken und gleichzeitig über Schwierigkeiten der Übersetzung von Gedichten diskutieren kann.
Man führt hier ein beinahe schon zu beschauliches Leben im akademischen Elfenbeinturm, in einer freiwillig angenommenen Form wissenschaftlich-künstlerischer Klausur, die ich für eine Woche mitmache.
Wäre es mir lieber gewesen, mein erster Amerikaaufenthalt hätte in einer Großstadt stattgefunden? Möglicherweise. Zumindest hätte es mir gefallen, etwas mehr gesehen zu haben, zum Beispiel den Ozean, der angeblich eine Dreiviertelstunde Autofahrt weit weg liegt. Immerhin kann ich den Ozean dann am Abend meines Abfluges als schwarzes schlafendes Tier unter der Maschine, die mich aus Portland nach Washington fliegt, erahnen: Geballte Schwärze grenzt sich von der mit goldenen Lichtperlen ausgeformten Küstenlinie ab.
Mein Rückflug verläuft, abgesehen von kaum merklichen Turbulenzen, ohne besondere Zwischenfälle, sogar mein Gepäck trifft zusammen mit mir in Bukarest ein. Dieses Mal hätte mir sein Verlust weit weniger ausgemacht, außer, dass ich darüber betrübt gewesen wäre, die Geschenke für meinen Hundesitter, meine Freundinnen und die Hundekekse für Bauschan wer weiß wann weitergeben zu können. Da ich wieder zu Hause bin, freue ich mich in Lewiston-Auburn, dem anderen L.A. in Maine gewesen zu sein.