Hoch über den Dächern Kronstadts liegt in luftiger Höhe, versteckt in einer Messingkapsel, die Kopie einer Nummer der Karpatenrundschau aus dem Jahr 2023. In vielleicht 300 Jahren wird jemand diese Zeitkapsel öffnen und die Zeitung lesen, um zu erfahren, wie wir gelebt haben.
Diese Information, die man am Nachmittag des 29. Januar zum Anlass des Bildvortrags von Dr. Ágnes Ziegler mit Präsentation originaler Turmknopfschriften aus Kronstadt erfahren konnte, geht einem nicht mehr aus dem Kopf.
Man fragt sich, welche Artikel es wohl sind, die unsere Nachkommen lesen werden. Werden sie überhaupt noch lesen können? Oder werden es vielleicht gar keine Menschen sein, sondern Roboter, die das Dach der Schwarzen Kirche reparieren und den Inhalt der Kapsel finden werden? Wird es spezielle Geräte geben, mit denen sie die Informationen auf den DVDs, die man zusätzlich in die Kapsel gelegt hat, entziffern? Und welche Botschaften werden sie selbst hineinlegen, für ihre Nachkommen, für dann, wenn sie längst nicht mehr leben werden?
Die goldene Kugel verbirgt ein Geheimnis
Der Turmknopf ist die goldene Kugel, die auf dem Dach eines wichtigen Gebäudes angebracht ist. Turmknöpfe findet man auf Kirchen, Rathäusern, Stadttürmen, Privathäusern, Schulen, Universitäten. Die frühesten sind aus dem Mittelalter bekannt. Sie können einen Durchmesser von 25 oder 150 cm haben, können 30 kg oder mehrer hunderte Kilogramm wiegen. Das Material, aus dem sie angefertigt sind, kann Kupfer, Blech oder Zinn sein. Im Rahmen einer dringenden Turmdachreparatur oder einer Renovierung wird die Kugel von der Turmspitze abgenommen und geöffnet. Drinnen findet man Botschaften aus der Vergangenheit an die Zukunft. Die Menschen haben eine Momentaufnahme ihrer Zeit in einer Box festgehalten und dem Wandel der Zeit entzogen. Jedes Mal, wenn der Turmknopf geöffnet wird, etwa weil das Dach beschädigt ist oder umgebaut wird, legen die jeweiligen Besitzer einen neuen Behälter dazu. Man legt Beigaben über das Zeitgeschehen hinein. Briefe, in denen man sagt, wer dabei war und was geschehen ist. Manche Döslein haben Menschen schon bei früheren Kapselöffnungen aufgemacht, den Inhalt dokumentiert und wieder verschlossen.
Multimediale Kommunikationsmittel über die Jahrhunderte hinaus
In einer Turmkapsel Schriftstücke für die Nachwelt unterzubringen, ist ein guter alter Brauch, der hauptsächlich zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert und vorwiegend auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, beziehungsweise in dessen Einflussgebiet bestand. Häufig wurden auch Münzen, Banknoten, Medaillen, Devotionalien, Porträts, Stadtansichten, Baupläne, Karten, gelegentlich Heiligenbilder und manchmal eigens angefertigte Kunstwerke, aber auch Kuriosa beigegeben. Diese multimedialen Kommunikationsmittel hatten den Zweck, die in der Turmschrift formulierten Gedanken zu illustrieren oder zu betonen, auch die Besonderheiten des Zeitpunkts der Errichtung einzufangen, oder – vorwiegend in den katholischen Gegenden – den göttlichen Schutz zuzusichern. Im historischen Archiv der Honterusgemeinde werden neben der im November 2023 entdeckten Turmschrift der Obervorstädter Kirche auch eine Zeitkapsel von 1939, die aus einem der Dachkreuze der Schwarzen Kirche stammt, sowie zahlreiche Abschriften von viel älteren Turmknopfschriften und Texteditionen der Knopfschriften vom Turm der Schwarzen Kirche, des Rathauses, des Purzengässer Tors und der Schmiedebastei bewahrt. Sehr unterschiedlich hinsichtlich Länge, Sprachduktus oder der beigelegten Objekte ist diesen charmanten Schriftstücken gemein, dass sie ein frisches und getreues Bild, eine Momentaufnahme des Zeitgeschehens zum Zeitpunkt der Einlage bieten, die oft auch die Umstände der Errichtung oder Renovierung selbst mit einbezieht.
Spannende Geschichten
„Die Idee, die Turmknopfschriften im Rahmen eines Vortrags zu präsentieren, ist uns gekommen, weil wir in den letzten Jahren gleich zwei dieser Schriften aus Dachkreuzen entdecken konnten. Alle haben eine sehr spannende Geschichte zu erzählen. Wir alle kennen das Konzept der Zeitkapseln. Doch Zeitkapseln im klassischen Sinn haben nur einen Empfänger, während die Turmknöpfe es voraussetzen, dass man die Geschichte fortsetzt. Falls man also etwas gefunden hat, tut man noch etwas dazu und legt es wieder zurück“, erklärte Ágnes Ziegler.
Um die Inhalte vor Verwitterung oder von Beschädigung zu schützen, legt man sie in Behälter aus Metall, Glas oder Holz. Die Turmknopfschriften wurden entweder beim Auffinden kopiert oder parallel zur Herstellung. Im Rahmen des Vortrags wurden dem Publikum mehrere Beispiele aus Kronstadt gezeigt.
Zum Beispiel eine Schrift, die im Purzengässer Torturm lag und aus dem Jahr 1651 stammt. Sie wurde in lateinischer Sprache vom Stadtschreiber Laurentius Berger verfasst. Die Schrift zählt die Mitglieder des Stadtrats auf, die Stadtgüter, sagt, wer Stadtrichter war und wer Fürst war. Aus der Schmiedebastei gibt es eine Schrift, die 1709 vom städtischen Notar Martin Seewald verfasst wurde. Er schreibt über geschichtliche Ereignisse, zählt eine Liste der Beamten auf.
Bei vielen Beispielen von Turmknopfschriften musste das Publikum schmunzeln.
Auch vor 200 Jahren gab es „politische Wendehälse“, auch damals gab es Leute, denen die eigenen Interessen wichtiger waren als das Wohl der Stadt, und auch früher gab es jemanden, der es mochte, seinen Namen überall stehen zu sehen.
Die Zeiten ändern sich, die Menschen aber nicht
Im Turmknopf eines Privathauses an der Ecke zwischen dem Kuhmarkt/Diaconu Coresi und dem Marktplatz fand man im Turmknopf eine Schrift aus dem Jahr 1800, die in deutscher Sprache verfasst wurde – der Autor schreibt über 10 Seiten über seine Unzufriedenheit mit einem Gebrüderpaar aus Kronstadt. Diese hätten sich katholisch umtaufen lassen, um bessere Positionen in der Stadt zu bekommen, haben illegale Geschäfte geführt und haben der Stadt geschadet.
Eine andere Inschrift stammt gerade aus dem September 1939, dem Moment des Kriegsbeginns. Thematisiert wurde die große Sorge – weil die deutsche Gemeinschaft schrumpft, und man fragte sich ob es in ein paar Jahrzehnten weiter geht mit der Gemeinde und wie es mit der deutschen Srpache weiter geht – doch sie blickten noch mit Hoffnung in die Zukunft.
Auf halber Höhe zwischen Himmel und Erde
Richard Sterner, Leiter der Verwaltung historischer Liegenschaften der Evangelischen Kirche A.B., erzählte von den Botschaften, die man vor anderthalb Jahren in den Turmknopf der Obervorstädter Kirche hineingelegt hat. „Wir haben keine Liste der Stadträte hineingelegt“, meint er lachend. „Dafür eine Münzensammlung, Fotografien, eine Kopie der Karpatenrundschau, die widerspiegelt, was im Land und in der Stadt passiert, und eine DVD mit vielen Materialien über Baupläne und Struktur der Kirchengemeinde.“
Warum gibt es die Turmkapseln eigentlich? Es gibt ein Bedürfnis, eine kollektive Memoria zu schaffen, meint Ágnes Ziegler. „Und es tritt ein Drang der Selbsthistorisierung ein – man muss etwas tun, um eine Spur zu hinterlassen. Es geht um die sichere Lagerung wichtiger Inhalte und oft geht es auch darum, dass man auf halber Höhe zwischen Himmel und Erde um Gottes Schutz und Beistand bittet. Dadurch entsteht eine generationenübergreifende Kommunikation, denn wir fühlen uns direkt von unseren Vorfahren angesprochen und wir sprechen dann unsere Nachkommen an“.
Besonders emotional ist eine Botschaft aus dem Rathausturm, die im Rahmen der Präsentation vorgelesen wurde: „Wir legen die Feder nieder und überlassen dir, später Leser, ernsthafteren Betrachtungen – die dich zu diesem Ziele zu einer Zeit führen mögen da wir, deine Vorfahren vom Staub und Moder längst verzehret seien, und in der grauen Ewigkeit, wohin du uns folgen wirst, schon angefangen haben, die Früchte von dem, was wir säten, wirklich einzuernten.“
Nach dem Vortrag hat sich mit Sicherheit in jedem Teilnehmer etwas geändert.
Wenn man von der Zinne aus auf Kronstadt blickt, sieht man viele goldene Kugeln auf den Türmen in der Sonne leuchten. Und man muss denken: Was verbirgt sich in ihnen? Welche Botschaften der Vergangenheit und welche Nachrichten an die Zukunft geben sie preis?