Ein eisiger Wind schlägt uns ins Gesicht, als wir in Riga aus dem Flughafen ins Freie treten. Fünfeinhalb Stunden hat die Reise aus Bukarest bis in die lettische Hauptstadt gedauert – mit Umsteigen in Frankfurt am Main, da es aus Rumänien nach Lettland keine Direktflüge gibt.
Der Flughafenbus fährt an hohen, grauen Gebäuden vorbei, überquert die Brücke über den Fluss Daugava und hält nach etwa 25 Minuten in der Endstation, am Ufer des 11. November. Man braucht nur die Straße zu überqueren und schon ist man in der Altstadt. Wir deponieren unser Gepäck schnell im Hotel und begeben uns auf Entdeckungsreise durch die 700.000-Einwohner-Stadt. Riga ist faszinierend: hinter jeder Ecke versteckt sich eine Überraschung. Wie eine Lebkuchenstadt – so sieht die Altstadt aus. Besonders auf dem Rathausplatz, in den eine Vielzahl von schmalen Gassen mündet. Er wird von rosa, blauen und grünen Häusern umringt, mit Fenstersimsen so weiß wie Puderzucker. Man kann sich einfach nicht sattfotografieren.
Anlässlich eines Alumnitreffens kamen zwischen dem 19. und dem 22. Oktober über 50 Stipendiaten verschiedener Journalistenprogramme der Robert-Bosch-Stiftung aus Mittel- und Osteuropa nach Riga. Ziel des Treffens mit dem Titel „Turbulente Zeiten für Europa: Die baltische Perspektive“ war, Experten zu treffen und einige der wichtigsten aktuellen Themen im Baltikum zu besprechen, was die Situation mit Russland, die Flüchtlingskrise und die Zukunft der EU anbelangt. Aber auch, sich untereinander besser kennenzulernen und zu vernetzen und interessante Fakten über Lettland zu erfahren. Ein Land, über das man in Rumänien kaum etwas weiß. Außer vielleicht, dass es im Norden liegt und bis 1991 zur Sowjetunion gehört hat.
Schwarze Katze, schwarzer Schnaps
Auf dem Rathausplatz werden an mehreren Ständen dicke Wollsocken mit Muster verkauft. Ein Paar kostet 15 Euro. „Djewutschka, djewutschka“ (russisch: Mädchen), schreit uns ein Verkäufer nach, als wir uns abwenden und weiter gehen wollen. Er ist bereit, den Preis zu senken. Die rosarote Abendsonne verwandelt den Rathausplatz in eine Bilderbuch-Kulisse. Es wird noch kälter. In einem Souvenirladen wärmen wir unsere Hände und bewundern den Schmuck aus Bernstein, „Gold der Ostsee“ genannt, den es überall zu kaufen gibt. 2004 ist Lettland der Nato und der EU beigetreten. Am 1. Januar 2014 führte es als zweite Balten-Republik und drittes Land des ehemaligen kommunistischen Ostblocks nach der Slowakei und Estland den Euro ein. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hatte diese Maßnahme jedoch abgelehnt.
Für die Letten war der Lats, ihre alte Währung, ein Symbol für die staatliche Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Bis 1991 wurde hier noch mit russischem Rubel gezahlt. Auch heute noch ist das Verhältnis der Letten zur starken russischen Minderheit angespannt.
Über mehreren schwarzen, mit lila beschrifteten Flaschen, steht der Werbetext: „Du warst nicht in Riga, wenn du keinen schwarzen Balsam getrunken hast“. Wir kaufen die kleinste Flasche, die es gibt, für 2,5 Euro. „Good for health“ (Gut für die Gesundheit) verspricht uns die Verkäuferin und zwinkert. Das alkoholische Getränk in der Flasche erinnert an Hustensirup und hat einen bitteren Duft. Aus dem Internet erfahren wir, dass der schwarze Balsam aus 24 Zutaten hergestellt wird. Dazu gehören Pfefferminz, Johanniskraut, Wermut, Birkenknospen, Ingwer, Kalmus und Melisse. Andere sind geheim. „Seine wundersamen Eigenschaften haben aber bereits seinerzeit die russische Zarin Katharina II geheilt“, steht auf der Wikipedia-Seite des Balsams. 2010 haben die Letten den Rigaer Schwarzen Balsam, dessen Massenproduktion im Jahr 1900 begann, zu einer einmaligen lettischen Marke gekürt. Gegen Kälte wirkt das Getränk auf jeden Fall.
Ebenfalls im Souvenirladen bemerken wir, dass auf den meisten Kühlschrankmagneten, Kaffeekannen, Schlüsselanhängern und Kissen eine Katze abgebildet ist. Das liegt am „Katzenhaus“, eines der meistfotografierten Gebäude in Riga. Hier schmückt eine schwarze Katze das Dach. Das Katzenhaus wurde im Jahr 1909 nach einem Entwurf des Architekten Friedrich Scheffel errichtet. Der Eigentümer des Hauses war ein reicher lettischer Kaufmann, der nicht in die Große Gilde aufgenommen wurde. Diese versammelte die Kaufleute und auch hohe Beamte und Pastoren, reiche Bürger der Stadt, die einen erheblichen Einfluss auf das politische und wirtschaftliche Geschehen Rigas nahmen. Der Entschluss war für den Kaufmann eine so große Beleidigung, dass er auf dem Dach seines Hauses sehr ausdrucksvolle Katzenfiguren aufstellte, deren Schwänze gegen das Gebäude der Großen Gilde gerichtet waren und so das Unverständnis über das Verhalten dieser Kaufmannsvereinigung ausdrückten. Katzen sind in Riga übrigens sehr populär. Mit einem Facebook-Post hat es der Bürgermeister Nils Usakovs vor einigen Monaten zu Internet-Ruhm gebracht. Er postete ein 360-Grad-Foto seines Büros und forderte die Facebook-Nutzer dazu auf, seine beiden Katzen Kuzju und Muri zu suchen.
Der Zauber der Altstadt
Wir kaufen noch ein paar Katzenmagneten, dann treten wir wieder hinaus in die Kälte. Seit 1997 gehört die malerische Altstadt Rigas zum UNESCO-Weltkulturerbe. 2014 war die lettische Metropole europäische Kulturhauptstadt. Am Schwarzhäupterhaus mit steilem Giebeldach und reich dekorierter Fassade bleiben wir stehen, um vor Einbruch der Dunkelheit noch schnell ein paar Fotos zu machen. Riga war im Mittelalter eine wichtige Hafenstadt und gehörte der Hanse an, die Händler aus der Ostseeregion und Norddeutschland zusammenschloss. Die Wappen von Riga, Hamburg, Lübeck und Bremen zieren den Giebel des im gotischen Stil errichteten Schwarzhäupterhauses. Über Jahrhunderte tafelten an dieser Stelle nur junge, unverheiratete Hanse-Kaufleute. Das Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und 2001, zur 800-Jahr-Feier der lettischen Hauptstadt, originalgetreu rekonstruiert. Unser Spaziergang geht weiter zum Livenplatz, einem der schönsten Plätze der Altstadt und einem beliebten Treffpunkt der Rigaer Jugend. Und von dort weiter durch die schmalen Gassen, bis wir ein traditionelles Restaurant finden, wo wir „schwarzen Pudding“ (eine Art Blutwurst) mit Kartoffeln und Spinat essen, und dazu ein lettisches Bier nehmen. Die lettische Küche ist lecker, aber schwer: man isst viel Schweinefleisch, Speck, Wurst, Erbsen- und Krautgerichte.
Millionenvillas neben grauen Wohnblöcken
Am nächsten Tag brechen wir auf nach Jurmala, an der Küste des Baltischen Meers, nur 20 Kilometer von Riga entfernt. Der Zug aus Riga braucht etwa 20 Minuten bis hierher, ein Ticket kostet etwas über 1 Euro. Bei der Station Jurmala Majori steigt man aus dem Zug, überquert die Straße, geht am Fünfsternehotel „Baltic Beach“ vorbei und schon ist man am Strand und tritt auf feinen Sand, der wie hellbrauner Zucker aussieht. In der Nebensaison sind die Straßen leer, doch an schönen Tagen wie diesem sind viele Spaziergänger am Strand.
Im Stadtmuseum Jurmala erzählen Hunderte von Gegenständen über die Kurortstadt, seit Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Hier gibt es die größte Badeanzüge-Sammlung Lettlands, alte Postkarten, aber auch Künstlerarbeiten und Exponate der Unterwasserarchäologie. Man kann die Bademode aus alten Zeiten bewundern und auch interessante Fakten erfahren. Zum Beispiel, dass im 19.Jahrhundert die reichen Leute von einer Art Kutsche ins Meer befördert wurden. Wenn sie mit dem Baden fertig waren, hoben sie eine Flagge, und die Kutsche holte sie wieder ab.
Jurmala, früher „Rigaer Strand“ genannt, ist die größte Kurstadt im ganzen Baltikum. Schon zu Sowjetzeiten war sie nicht nur bei Einheimischen beliebt, sondern auch bei Urlaubern aus Russland. Heute benötigen die Touristen aus Russland ein Visum, um nach Lettland zu kommen. Trotzdem ist die Stadt voll von Moskauern. Beson-ders in den vergangenen Jahren stieg die Zahl der Russen rasch, ebenso wie die Zahl der Luxuskarossen und der teuren Restaurants. Viele wohlhabende russische Staatsbürger haben in Jurmala Villen gekauft. Doch nicht nur die schönen Landschaften und der Strand trugen dazu bei. „Dank des lettischen Investitionsprogramms erhalten die Russen durch den Erwerb von Immobilien Aufenthaltsgenehmigungen samt Schengen-Visa“, erzählt der lettische Tourismus-Journalist Zigmunds Bekmanis. Während einer Fahrt entlang der 26 km langen Küste zeigt er uns sowohl prunkvolle Villen als auch armselige Wohnblocks. Oft stehen solche Gebäude fast nebeneinander – und zeugen von den riesigen Unterschieden zwischen Arm und Reich.
Für den finnischen Jour-nalisten, Non-Fiction-Schrift-steller und PolitCartoon-Autor Jukka Rislakki ist Jurmala seit fast 15 Jahren zum Heimatort geworden. Ris-lakki ist mit der ehemaligen lettischen Botschafterin in Finnland, Anna Zigure, verheiratet. Für ihn ist die Einstellung der lettischen Bürger gegenüber Korruption seltsam. „Manche scheinen so zu denken: ‘ok, er stiehlt, aber er gibt auch anderen davon, also ist das gut’. Manche Leute sagen, dass die neue Generation alles verändern wird. Aber ich bin mir da nicht so sicher. Erstens – sehr viele junge gebildete Menschen verlassen Lettland. In den baltischen Staaten sinkt die Einwohnerzahl sehr schnell. Diejenigen, die in Lettland bleiben, denken, dass die Politik hier normal ist“, meint der Journalist. Rislakki hat sich aber an Lettland gewöhnt. Er meint, es sei ein gutes Land zum Leben. In Jurmala, wo er wohnt, ist die Umwelt nicht verschmutzt, man kann gesund leben, jeden Tag am Strand spazieren gehen, ist in der Nähe der Natur. Über den andauernden Konflikt zwischen den Letten und der russischen Minderheit meint er: „Es gibt ein gutes Buch über die russische Minderheit im Baltikum. Da ist eine Frau, Jelena, die seit 30 Jahren in Riga lebt. ‘Wenn ich 30 Jahre lang in den USA gelebt hätte, würde ich eine Amerikanerin sein. Hier sagen sie mir immer, dass ich eine Russin bin’, sagt sie. Diejenigen, die kein Lettisch lernen wollen – das ist hauptsächlich die alte Generation – meinen, dass sie es nicht mehr lernen können. Sie fühlen sich verletzt – vor 25 Jahren, als Lettland unabhängig wurde, haben sie keine lettische Staatsbürgerschaft erhalten. Die Russen in Lettland leben in einer Blase: sie schauen nur russische Fernsehsender, sie stehen mehr für Putin als die Russen in Russland, weil sie meinen, alles wäre OK. Das ist eines der Probleme für die Sicherheit Lettlands. Würden diese Leute Lettland verteidigen, wenn der Krieg kommt?“
Zu Besuch bei der ehemaligen Präsidentin
Am nächsten Tag frösteln wir am Eingang des Rigaer Schlosses. Nach einer gründlichen Ausweiskontrolle können wir in den Pressesaal, wo ein einstündiges Treffen mit Vaira Vike-Freiberga, der ehemaligen Präsidentin Lettlands, auf dem Programm steht. Die Eltern von Vaira Vike-Freiberga waren Kriegsflüchtlinge, die 1944 Lettland verlassen haben, um anschließend in Deutschland, Marokko und Kanada zu leben. An der Universität von Toronto und an der McGill-Universität promovierte Freiberga in Psychologie. Zwischen 1965 und 1998 lehrte sie als Professorin für Psychologie an der Universität von Montreal. Während dieser Zeit war sie schon in der lettischen Gemeinschaft Kanadas aktiv. 1998 kehrte sie nach Lettland zurück, um die Leitung desLettland-Instituts zu übernehmen, eine Organisation zur Förderung der Bekanntheit Lettlands im Ausland. Im darauf folgenden Jahr wurde sie zur Präsidentin der Republik Lettland gewählt und blieb es bis 2007. „Ich will gerne über die Wichtigkeit der Presse sprechen, über ihre Rolle, über das, was sie leisten kann. Meiner Meinung nach ist die Pressefreiheit ein Stützpfeiler der Demokratie.
Demokratie bedeutet, dass du die Möglichkeit hast, eine Wahl zu treffen. Um eine Entscheidung treffen zu können, musst du aber gut informiert sein. Man sagt, Presse ist der Wachhund der Demokratie. Dieser Wachhund muss gut trainiert sein. Er muss frei sein und er muss fair sein“, so Vike-Freiberga. Die ehemalige Präsidentin äußerte sich auch zur Flüchtlingsproblematik. Laut den letzten Medienberichten hatte Lettland vor Kurzem zugesagt, 531 Flüchtlinge aufzunehmen. Bislang sind dort aber erst 69 von ihnen angekommen. 23 der Asylsuchenden wurden als Flüchtlinge anerkannt oder haben einen alternativen Schutzstatus bekommen – aber bis auf zwei Flüchtlinge haben von ihnen alle Lettland wieder verlassen und sind nach einem Bericht des lettischen Fernsehens auf eigene Faust nach Deutschland oder in andere Länder weitergezogen. „Niemand will in einem Land wie Lettland leben. Da gibt es kaum soziale Unterstützung. Die Menschen suchen immer das höchste Niveau von Unterstützung. Die EU hat kein einheitliches Sozialhilfesystem. Es gibt große Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern. Die Flüchtlinge, die nach Lettland kommen, wollen am liebsten weiter“.
Aida Ivan
Elise Wilk