Ein wertvoller Schatz in Schwarz-Weiß

Vortrag über den Nachlass von Luise Treiber-Netoliczka

Luise Treiber-Netoliczka: mit Nicolae Iorga und anderen Teilnehmern der Sommerakademie in Vălenii de Munte, um 1935

Ein altes Schwarz-Weiß Foto zeigt vier junge Männer bei der Arbeit in einer Kürschnerwerkstatt aus Bergel neben Bistritz, im Hintergrund überprüft ein älterer Mann die Tierfelle, aus denen später Jacken, Mäntel und Mützen hergestellt werden. Auf einem anderen Foto sieht man eine Rumänin aus der Kronstädter Oberen Vorstadt in Festtagstracht an einem nebeligen Tag. Auf den Dächern der Häuser liegt Schnee, das Foto wurde womöglich zu Weihnachten geschossen. Ein anderes Bild zeigt  zwei Knaben mit Hut, Mantel und weißer Hose auf einer staubigen Dorfstraße. Sie blicken ernst in die Kamera. Alle Fotos wurden von der Kronstädter Volkskundlerin Luise Treiber-Netoliczka Anfang der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Siebenbürgen aufgenommen. Der Leitgedanke ihrer wissenschaftlichen Arbeiten stand von Anfang an unter der Frage des interethnischen Kulturaustausches. Fast 2000 Fotos aus ihrem Nachlass zeigen den Alltag unserer Vorfahren vor fast 100 Jahren und retten zusammen ein Stück Vergangenheit: Wie war ein Tag auf dem Dorf? Wie sahen die Menschen damals aus? Was arbeiteten sie? Wie kleideten sie sich? Auf diese Fragen gibt es heute, dank der Fotos, eine Antwort.

Es war nicht leicht, diese Menschen zu fotografieren. Dafür brauchte man laut  Netoliczka „ ein unendliches Maß von Güte und Überredungskunst“. Jede Erkundungsreise durch die siebenbürgischen Dörfer war ein Abenteuer.

Eines der faszinierendsten Fotos zeigt eine Gruppe von elegant gekleideten Männern und Frauen in einem schwarzen Cabrio mitten im Gebirge. Es ist ein Foto von einer Feldforschung, die Netoliczka zusammen mit dem Klausenburger Ethnografen Romulus Vuia unternahm.

„Eine Kronstädter Coco Chanel“
Dr. Frank-Thomas Ziegler und Camelia Neagoe haben am Nachmittag des 25. März im Kapitelzimmer des alten Pfarrhauses den Nachlass von  Luise Treiber-Netoliczka  (1893–1974)  im Archiv der Honterusgemeinde und sein Potential für die Wissenschaft im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Kulturerbe hautnah“ vorgestellt. Das Publikum erhielt spannende Einblicke in die Arbeitsweise von Netoliczka als Ethnographin, insbesondere in die Art und Weise, wie sie die Fotografie als Arbeitsmittel ergänzend zur Schriftdokumentation eingesetzt hat. Während des Vortrags wurden ausgewählte Originalfotografien  präsentiert. Davon auch ein paar Portait-Fotos der Volkskundlerin. Sie zeigen eine elegante, selbstbewusste Frau. „Eine Kronstädter Coco Chanel“, wie Frak Ziegler sie nannte. Wenn man diese Fotos ansieht,  merkt man gleich, dass sie eine faszinierende Persönlichkeit war und möchte mehr über ihr Leben und Werk erfahren.  Die am 29. Juli 1893 als Tochter des Rektors des Honterus-Gymnasiums in Kronstadt, D.Dr. Oskar Netoliczka, eines bedeutenden Gelehrten und Ehrendoktors der Züricher Universität, geborene Luise wuchs in einer Familie von  Intellektuellen und Künstlern auf.  Sie absolvierte das Honterusgymnasium und schloss daran Studien in Budapest, Leipzig und Marburg an, die sie mit der Erlangung des Doktortitels in den Fächern Deutsche Sprache und Literatur, Kunstgeschichte und Archäologie abschloss. Beginnend mit ihrer neunjährigen Tätigkeit am Siebenbürgischen Volkskundemuseum in Klausenburg entwickelte sie sich zu einer prägenden Ethnografin der Zwischenkriegszeit.  Im Jahr 1963 reiste sie zusammen mit ihrem Ehemann in die Bundesrepublik Deutschland aus. Davor übergab sie der Evangelischen Kirchengemeinde A. B. Kronstadt zwei vorbildlich geordnete Konvolute: den persönlichen Nachlass des Vaters D. Dr. Oskar Franz Josef Netoliczka und ihre eigene, bis dahin zusammengetragene Arbeitsdokumentation. Gemeinsam mit jenem Teil ihres Nachlasses, der sich an der Siebenbürgischen Bibliothek in Gundelsheim erhalten hat, und ihrer Sammlung von Glasnegativen, die das Siebenbürgische Museum für Volkskunde in Klausenburg bewahrt, bildet er auch heute noch einen wertvollen Schatz.

Als sie am 7. Juli 1974 auf Schloss Horneck in Gundelsheim am Neckar starb, hieß es in einem ihr gewidmeten Nachruf: „Niemand besitzt ein so umfassendes Wissen über die Trachten und die Volkskunst Siebenbürgens, wie sie es hatte.“

Ein wertvoller Nachlass
In Kronstadt hat sich neben der schriftlichen Dokumentation ihrer Feldforschungen auch ein teils unveröffentlichter Fundus von Bildträgern erhalten. Das Ethnographische Museum Kronstadt und die Evangelische Kirche A. B. Kronstadt haben 2024 eine partnerschaftliche Vereinbarung geschlossen, die den Rahmen für die erstmalige systematische Erschließung des fotografischen Nachlasses bildet. Nach derzeitiger Einschätzung enthält er etwa 800 Glasnegative, 350 Filmnegative, über 1900 Fotografien auf Papier, etwa 400 Glasdiapositive und mindestens zwei Alben.
Der Kronstädter Nachlass ist bemerkenswert: Luise Treiber-Netoliczka hat umfangreiches Material zur Trachtenlandschaft des Burzenlandes hinterlassen – sowohl zu den Trachten der Siebenbürger Sachsen als auch zu denen der Rumänen und der Tschango. Der Nachlass gewährt dadurch, dass er auch Werke anderer Fotografen beinhaltet, vor allem die des jüngeren Bruders Oskar G. Netoliczka oder aber auch des Fotoamateurs Josef Glatzl, neue Erkenntnisse zu deren eigenem Werk. Dieses Material zur Trachtenlandschaft und zur Dokumentation des Lebens auf dem Dorf zu erhalten, war nicht einfach. Die Forschungsreisen durch das Land waren mit Sicherheit interessant und spannend, doch sie brachten auch Opfer mit sich.

Oft musste man in Kleidertruhen übernachten
Die Volkskundlerin erinnert sich in ihren Memoiren, dass die Verbindungen zwischen den Dörfern sehr schlecht waren und dass die im Gebirge gelegenen Ortschaften nur zu Fuß erkundet werden konnten. Unterkunftsmöglichkeiten gab es kaum. Oft musste eine Kleidertruhe oder eine mit Stroh belegte Bettstatt für ein Nachtlager herhalten. Im Winter schlief man bekleidet, da es viel zu kalt war. Auch mit der Verpflegung war es nicht leicht, man musste oft seinen Vorrat im Rucksack mitschleppen. Ebenfalls war das Wandern von Dorf zu Dorf gefährlich, auch wegen der Schäferhunde im Gebirge. „Von den Gendarmen festgenommen zu werden, ist auch keine Seltenheit, denn  schon der Fotoapparat macht einen als Spion verdächtig. Der fremde Name, die fremde Aussprache erst recht, und da nutzen oft die besten Empfehlungsschreiben nichts. Fällt schon ein Mann bei solch einsamen Fahrten auf, so erst recht eine Frau, besonders wenn kein Schnee und Regen, keine glühende Hitze eisige Kälte sie abhalten kann, ihre Arbeit fortzusetzen, wenn der höchste Feiertag zum Arbeitstag wird, weil er natürlich für den Volkskundler das ergiebigste Forschungsmaterial liefert. Selbstverständlich bietet es auch oft Schwierigkeiten, an die Dorfbewohner heranzukommen und sie so weit zu bringen, dass sie mit Freude, Liebe und Verständnis das Werk des Volkskundlers fördern.  Viel Menschenkenntnis, viel Takt und pädagogisches Geschick gehören dazu, den Weg zum Herzen der Leute zu finden. Denn sie sind verschlossen und misstrauisch. Sie öffnen ihre Truhe mit ihren Kleiderschätzen schwer, noch schwerer aber ihr Inneres“.

Und trotzdem schaffte  es die Ethnografin, einen wahren Schatz zu hinterlassen. Denn es war die riesige Leidenschaft für ihren Beruf, die wie ein Zündstoff funktionierte und ihr die Energie gab, Tag für Tag weiterzumachen. „Und doch treibt den echten Wissenschaftler die Hingabe an das Werk, der Anruf der Zeit, etwas leisten zu müssen, was anders nicht getan wird, immer wieder zu neuer Opferbereitschaft, und lässt ihn immer wieder die Strapazen und Entbehrungen vergessen. In wessen Herzen aber nicht diese Leidenschaft lebt, der darf sich ihr nicht verschreiben“. Das gilt für viele Berufe, auch heutzutage.